Vom merkwürdigen Verschwinden der Vorzimmerdamen

Von Emanuel Eckardt

Er kann ihr vertrauen. Sie ist verschwiegen, hat die Fähigkeit zuzuhören, und das Gehörte gleich wieder zu vergessen. Oder das Gehörte sechs Wochen später noch im Wortlaut zu erinnern, ganz wie er es wünscht. Sie denkt sich in ihn hinein, ahnt voraus, was er braucht, dient ihm selbstlos, als Servolenkung seines Berufslebens, die so perfekt funktioniert, dass er sie nicht spürt. Sie verfügt über seine Zeit, steuert seinen Alltag, achtet darauf, dass er nicht überfordert ist und Nischen der Ruhe findet.

Für ihn verzichtet sie auf ein Privatleben, arbeitet achtzig Stunden pro Woche. An Wochenenden ist sie telefonisch erreichbar. Oft genug ruft er an. Sie ist seine Sekretärin. Er kann sich auf sie verlassen, kann sich von ihr beschützt fühlen. Sie wacht vor seiner Tür. Sie weiß, wen sie zu ihm vorlässt, und wen nicht. Sie weiß, wen sie durchstellen darf, und wen er zurückrufen wird. Sie hat die gleiche Autorität wie ein Türsteher an der Disco, nur lässt sie nicht die Muskeln spielen sondern ein Lächeln.

Niemand kommt an ihr vorbei. Seine Frau stellt sie natürlich durch, aber sie sagt ihr fairerweise, wenn er Besuch im Zimmer hat oder in einem Meeting ist, auch wenn dies nicht stimmt und er nur nicht gestört werden möchte. Eine Chefsekretärin muss lügen können, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur der Chef hat Anspruch auf die volle Wahrheit. Und wenn er sie nicht verträgt, wird sie ihn damit verschonen.

Der Idealtyp der Geheimnisträgerin im Vorzimmer war Juliane Weber, Leiterin des persönlichen Büros von Helmut Kohl. Sie diente ihm 36 Jahre. Sie gingen sogar gemeinsam in Urlaub, der Helmut zum Fasten, seine Frau Hannelore und Sekretärin Juliane in die Schönheitsfarm. Sie allein kannte die dicht beschriebenen Seiten seines gefürchteten Elefantengedächtnisses, das er in Form eines kleinen schwarzen Notizbuchs bei sich trug. „Es gibt nur zwei Menschen, die alles über mich wissen“, hatte Helmut Kohl einmal gesagt, „meine Frau und die Juliane.“

Juliane Weber wusste alles und konnte sich doch an absolut nichts erinnern, wie der Untersuchungsausschuss zur Parteispendenaffäre frustriert zur Kenntnis nehmen musste. Ihr Schweigen war Ehrensache.

Ehe wem Ehe gebührt. Angeblich heiratet jede dritte Chefsekretärin ihren Chef. Groß ist die Zahl der Berufsromanzen, in denen die Damen aus dem Vorzimmer an die Spitze der Gesellschaft entschwebten. Heidi Horten war einmal die Sekretärin Heidi Jelinek, Johanna Bruhn tippte für den Industriellen Quandt, bevor sie seine Frau wurde. Lydia Deiniger, Büroleiterin von Jürgen Schrempp, ist heute seine Frau.

Carla Fiorina, Präsidentin von Hewlett-Packard, hat als Sekretärin angefangen. Ebenso Liz Mohn , die ihren zwanzig Jahre älteren Mann Reinhard auf einer Betriebsfeier kennenlernte. Man spielte die Reise nach Jerusalem und da sind wohl beide auf einem Stuhl gelandet. Danach drehte sie so selbstbewusst am Personalkarussell im Bertelsmann Konzern, dass schon mal Vorstände aus der Kurve flogen und beschäftigte sechs Sekretärinnen.

Annemarie Renger, Präsidentin des Deutschen Bundestages, fing als persönliche Vertraute des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher an. In der Politik wird kräftig gebaggert. Der Diplomat Rüdiger von Wechmar heiratete die Susie aus seinem Vorzimmer. Barbara Genscher war als Bärbel Schmidt Sekretärin der FDP-Bundestagsfraktion. Margot Stoltenberg wurde von ihrem späteren Mann Gerhard in der Bahn zum Diktat gerufen. Sie war Zugsekretärin.

Ein Chef, der seine Sekretärin heiratet, verliert sie schnell aus den Augen, denn für seine Frau hat er nicht viel Zeit. Er wird eine neue Sekretärin finden müssen, eine, mit der er den Tag verbringt und viele Abende dazu, eine Frau, die ihm die Wünsche von den Augen abliest, die auf Zuruf herbeieilt und perfekt funktioniert. Aber warum ist es immer eine Frau?

Sekretärinnen machen den Job von Männern. Sekretär ist ein alter, ein klassischer Männerberuf. Im Mittelalter waren die Herren Geheimnisträger, „Heimliche“ (lateinisch secretarii), die Einflüsterer bei Hofe, Berater der Macht. Aus Sekretären, den Vertrauten der Herrscher, wurden Staatssekretäre, Kanzler und Minister, hochdotierte Bürojobs einer hierarchisch geprägten Männerwelt, die im Generalsekretär eines Zentralkomitees ihren Zenit erreichte.

Büroarbeit war Männersache. „Wir brauchen mechanisch tätige Subalternen“, hatte schon Goethe gewusst. Fleißige Schreiber und Kopisten brachten die Werke der Geistesgrößen, Dichter, Philosophen und Komponisten in lesbare Form. Die Erfindung der Schreibmaschine holte die Frauen ins Vorzimmer und mit ihnen entwickelte sich die Hochkultur der abendländischen Bürokommunikation, ein einzigartiges Vertrauensverhältnis.

Die Vorzimmerdame wurde zur Repräsentantin einer geschliffenen Unternehmenskultur, die Powerfrau im Vorzimmer der Macht. Die Chefsekretärin. Kinderlos. Perfekt organisiert. Ständig erreichbar. Geduldig. Diskret. Ganz Dame. Und Mädchen für alles. Engagiert, belastbar und lebenserfahren, flexibel und vor allem loyal. Ruhender Pol und Schaltzentrale. Die Seele des Betriebs. Die Schulter, an der sich der Chef, aber auch die Mitarbeiter ausweinen dürfen. Sie ist Office-Managerin, Stenotypistin und Übersetzerin, Dolmetscherin, Krankenschwester und Imageberaterin, Benimmlehrerin und Serviererin zugleich.

Alles für den Chef. Sie öffnet alle seine Briefe, auch die, auf denen „privat“ steht. Sie räumt seinen Schreibtisch auf, stellt einmal pro Woche frische Blumen auf den Tisch. Sie füttert seine Goldfische oder seine Piranhas. Sie ist sein Gedächtnis, erinnert ihn an seinen Hochzeitstag und an die Geburtstage seiner Frau und seiner Kinder, an seine Arzttermine und die Inspektion für den Porsche. Sie kennt seine Finanzen, weiß alles von seinem Privatleben. Sie wird sein Outfit überprüfen (Sitz der Krawatte, Schuppen am Kragen). Meetings und Veranstaltungen organisieren, die Einladungsliste führen und die Tischordnung organisieren.

Sie ist perfekt gekleidet. Dezenter Schmuck, knielanger Rock, Strümpfe, niemals Gesundheitslatschen, immer Make-up. Formvollendet repräsentiert sie seine, ihre Firma, am Telefon, auf Empfängen, nach Feierabend. Ihr einziges Hobby ist der Job. Sie raucht nicht, trinkt nicht, trödelt nicht, treibt keine Risikosportarten im Urlaub. Naschwerk teilt sie mit dem Chef. Dass Arbeit süchtig machen kann, sieht man ihr gerne nach.

Vertraulichkeiten sind erlaubt, aber nur dem Chef. Er wird sie mit Vornamen ansprechen. Wenn er klug ist, wird er darauf verzichten, ihr einen Kosenamen zu geben oder sie zu duzen. Aber Chefs sind nicht immer sehr klug. Sie wird ihn selbstverständlich auch nach dreißig Jahren Zusammenarbeit immer noch siezen und mit seinem Titel anreden, wenn er darauf Wert legt. Und was ist der Dank?

Und wenn der Chef eine Frau ist? Merkwürdigerweise finden viele Sekretärinnen das nicht so prickelnd. Ein Drittel lehnt, nach einer Untersuchung der Universität Trier, eine Frau als Boss rundweg ab. Weibliche Chefs galten bei den Befragten als unsachlich (31 Prozent), launenhaft (30 Prozent), kleinlich (20 Prozent) und humorlos (13 Prozent). Mit Chefinnen gebe es mehr Konflikte als mit Chefs. Positiv bei Frauen sei die Fähigkeit, eigene Schwächen zuzugeben und die Meinung anderer gelten zu lassen, fand die Mehrheit der befragten Damen. Allerdings äußerten diejenigen, die schon einmal eine Frau zur Chefin hatten, eher Vorbehalte, als die anderen, die bisher nur für einen Mann gearbeitet hatten. Männer seien nun mal sachlicher in ihrer Kritik und reagierten nicht so emotional. Sie seien leichter zu handhaben und hätten mehr natürliche Autorität als Frauen.

Offenbar wissen die wenigsten Chefs, was sie an ihren Sekretärinnen haben. Sie nehmen die Superleistung in Anspruch, ohne sie anzuerkennen. Zwar finden rund drei Viertel der Damen ihre Arbeit interessant und abwechslungsreich, aber jede Dritte fühlt ihre Leistung nicht ausreichend gewürdigt, fand das Münchner Marktforschungsinstitut Facit in einer Umfrage unter Sekretärinnen heraus. Die Vorzimmerdamen werden unterschätzt.

Für japanische Topmanager wird das langsam zum Problem. Sie sehen sich der Mißachtung ihrer Damen ausgeliefert. Sosukan nennt sich der subversive Widerstand im Vorzimmer, wenn Sekretärinnen mit sanftem Lächeln Termine vergessen, Unterlagen verlegen und Telefonate einfach nicht mehr durchstellen. Am Valentinstag, wenn die Sekretärinnen ihren Chefs traditionell Schokolade schenken, finden ungeliebte Bosse sie direkt auf den Schreibtisch – fein zerkrümelt.

Schokoladenseiten eines Traumjobs, der keiner mehr ist. In Deutschland gibt es rund 1,5 Millionen Sekretärinnen, die wenigsten von ihnen arbeiten noch für einen einzigen Chef. In den großen Konzernen geht die Zahl der Chefsekretärinnen kontinuierlich zurück. Ein neuer Typ von Powerfrau dringt ins Office-Management: Die Asssistentin mit Hochschulabschluss, topfit in Volks- und Betriebswirtschaft, Rechnungswesen und Controlling, Personalwesen und Arbeitsrecht. Sie bietet Managementqualitäten und Organisationstalent, Teamfähigkeit und Chaoskompetenz. Ihr liegt die Interkulturelle Kommunikation ebenso wie das Horizonting, die Fähigkeit über den Tellerand nationaler Grenzen zu blicken. Zu ihren Stärken zählt das Quality audit – die Fähigkeit, die eigene Arbeit zu kontrollieren und zu verbessern.

Das Berufsbild wandelt sich. Die persönliche Sekretärin ist ein Auslaufmodell. Als repräsentativer Büroschmuck für Aufsteiger wird sie eingespart, als Personenschutz für kommunikationsscheue Chefs nicht mehr gebraucht. Längst haben die Controller sie im Visier, Sekretärinnen sind Einsparpotenzial in einer Welt, in der teure Statussymbole abgeschafft werden, vor allem wenn sie ein Gehalt kassieren, Sozialkosten verursachen, krank werden können oder in Urlaub gehen. Mit den Sekretärinnen fällt die letzte Bastion, die den Entscheider vor dem Computer bewahrte. Die müssen jetzt ran.

Die Chefs ziehen sich zurück. Das Zwischenmenschliche kostet Zeit, elektronische Kommunikation ist schneller als eine Dame, die auf ihre Impulse wartet. Per E-Mail ist alles gesagt. Das iphone Hat alle Termine und Telefonnummern gespeichert, stellt keine Fragen.

Quo vadis Domina? Ist die Chefsekretärin vom Aussterben bedroht wie die Herzblättrige Kugelblume? Wie so oft kommen Signale der Hoffnung aus den USA, dem Land der kühnen Zukunftsentwürfe. Dort hilft der Social Secretary, die Gesellschaftsdame, den Damen und Herren der Gesellschaft, ihren vielfältigen Verpflichtungen nachzukommen. Sie reserviert den Tisch im Restaurant, schreibt Einladungskarten, sorgt bei gesellschaftlichen Anlässen für die angemessene Dekoration des Hauses, erledigt die private Korrespondenz, spendet hier und da, sagt zu, sagt ab. Nur Danksagungen schreibt sie nicht. Das wäre ein gesellschaftlicher Fauxpas.

Social Secretaries verdienen gut und bewegen sich sicher auf dem Parkett der High Society, sollten aber respektieren, dass sie nicht dazugehören. Entsprechende Ambitionen sind nicht zielführend, es sei denn, es gelingt wie im Hause des Revlon-Mitbegründers Charles R. Lachmann den Chef ganz für millionenschweres Happy End zu gewinnen. Der Schwerenöter heiratete die Persönliche Assistentin seiner dritten Frau.