Zwischen Assimilation und Abschaffung des Integrationsbegriffs

Teilhabe in der Migrationsgesellschaft: Zwischen Assimilation und Abschaffung des Integrationsbegriffs

Ludger Pries

 

Vor mehr als 30 Jahren verfasste der frџhere MinisterprЉsident von Nordrhein-Westfalen Heinz Kџhn im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt das Memorandum гStand und Weiterentwicklung der Integration der auslЉndischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der BRDТ (1979). Fџr die damalige Zeit recht kџhn konstatierte das Memorandum, Deutschland sei faktisch ein Einwanderungsland. Bis die politische Elite diese Sichtweise teilte und in der Mehrheitsbevљlkerung die vorherrschende Wirklichkeitsverleugnung gemЉ§ dem Mantra вDeutschland ist kein EinwanderungslandФ aufgegeben wurde, sollten noch weitere zwei Jahrzehnte vergehen (MehrlЉnder/Schultze 2001). Klaus J. Bade, der Grџndungsvorsitzende des SachverstЉndigenrats deutscher Stiftungen fџr Integration und Migration (SVR), verurteilte schon frџh die kontrafaktische Selbstbeschreibung Deutschlands als вNicht-EinwanderungslandФ. Mit der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und den Grџnen im Jahre 1998 und darauffolgend im Staatsangehљrigkeitsgesetz von 2000 und dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wurde ein grundlegender Wandel in der offiziellen Politik auf Bundesebene eingeleitet, der bis heute weitgehend parteiџbergreifend anhЉlt, was sich z.B. an dem im April 2012 in Kraft getretenen гGesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener BerufsqualifikationenТ, kurz Anerkennungsgesetz genannt, zeigt (SVR 2013: 151ff).

Wie ist dieser Politikwechsel der letzten fџnfzehn Jahre gesamtgesellschaftlich zu beurteilen? Handelt es sich nur um einen oberflЉchlich-instrumentellen Schwenk vor dem Hintergrund der Debatten um demographischen Wandel? Oder hat sich bei den politischen Eliten das VerstЉndnis von Migration und Integration in Deutschland tiefgreifender verЉndert? Fand ein allgemeiner und grundlegender Reflexions- und Lernprozess in Politik und љffentlicher Meinung, bei VerbЉnden und Behљrden statt? Der fast zeitgleich zum skizzierten Politikwechsel џber ein Jahrzehnt wЉhrende gezielte Terror der rechtsradikalen NSU-Gruppe gegen als вAuslЉnderФ und вFremdeФ Etikettierte sowie der behљrdliche und auch politische Umgang damit bis zum Prozessbeginn gegen den NSU im Frџhjahr 2013 lassen ernsthafte Zweifel daran aufkommen. Gibt es eine kritische Reflexion darџber, welche IdentitЉtskonflikte und psychisch-sozialen Verwundungen der Slogan вDeutschland ist kein EinwanderungslandФ bei Generationen von Einwanderern ausgelљst hat? Sind die sozialen, die kulturellen, die politischen und auch die љkonomischen SchЉden taxiert worden, die durch diese, nur historisch verstehbare fatale Wahrnehmungsstљrung verursacht wurde? [1]

Schon diese Fragestellungen kљnnen helfen, zwei einfache und extreme Positionen hinsichtlich des erwЉhnten Politikwechsels kritisch zu hinterfragen. Die eine Haltung wџrde lauten: Deutschland ist in der Migrations- und Integrationspolitik umgeschwenkt und hat seine Hausaufgaben bereits erledigt. Die andere Position kљnnte hei§en: Die bisherigen VerЉnderungen sind nur kosmetischer Natur und eigennџtzigem Zweckdenken geschuldet, eine wirkliche Aufarbeitung der Fehler im Bereich Migration und Integration hat bisher noch nicht stattgefunden. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Wahrheit zwischen diesen beiden Extremen liegt. Deutschland ist auf einem guten Wege, die Themen Migration und Integration grundlegend neu zu џberdenken. Wir befinden uns nicht vor oder nach, sondern mitten in einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel. Dieser ist fџr einige Themenfelder (wie der Zuwanderung Hochqualifizierter) und bei einigen gesellschaftlichen Gruppen (z.B. bei politischen Eliten und Nicht-Regierungsorganisationen) bereits weit vorangeschritten. Auf anderen Gebieten (etwa der Aufarbeitung des Unrechts, welches mit dem Schlachtruf вDeutschland ist kein EinwanderungslandФ Millionen von Zuwanderern zugefџgt wurde) und in anderen Teilbereichen der Gesellschaft (wie den љffentlichen Arbeits- und AuslЉnderbehљrden) bleibt noch sehr viel zu tun (vgl. zur Zuwanderung z.B. OECD 2013).

Immer mehr Menschen und auch viele Politiker nehmen dem Thema Migration und Integration gegenџber zunehmend eine grundsЉtzlich positive Haltung ein. Migration und die damit verbundenen Fragen der Teilhabe von Zuwanderern werden nicht mehr ausschlie§lich in der Problem-, Defizit- und Konfliktperspektive thematisiert. Immer mehr werden deren Chancen und Potentiale gesehen. Gleichwohl ist dieser Richtungswechsel ein noch sehr вzartes PflЉnzchenФ. Das wird etwa bei dem Thema der doppelten Staatsbџrgerschaft deutlich, wo gerade fџr die jetzt 18- bis 23-jЉhrigen Nachkommen von Einwanderern, die nicht aus EU-Mitgliedsstaaten (sondern z.B. aus der Tџrkei, Afrika oder Asien) stammen, noch erheblicher Handlungsbedarf besteht. Von den im Jahre 2011 mindestens seit zehn Jahren in Deutschland lebenden AuslЉndern wurden nur 2,3% eingebџrgert, das sind knapp 107.000 Menschen; die HЉlfte hiervon konnte die alte Staatsangehљrigkeit behalten, hat also eine doppelte Staatsangehљrigkeit; von den knapp sieben Millionen in Deutschland Lebenden mit auslЉndischer Staatsangehљrigkeit stellen diejenigen mit tџrkischer Staatsangehљrigkeit mit 23% die grљ§te Gruppe Р Angehљrigen dieser Gruppe wird verhЉltnismЉ§ig seltener (nur in jedem vierten Einbџrgerungsfall) die doppelte Staatsangehљrigkeit gewЉhrt (BAMF 2013: 216ff und 233f).

Nicht nur am Beispiel der doppelten Staatsangehљrigkeit lie§e sich zeigen, dass wir noch ziemlich am Anfang einer offenen und nachhaltigen, humanen und solidarischen Migrations- und Integrationspolitik stehen. Dies wџrde auch bei Themen wie der Praxis der Anerkennung auslЉndischer Bildungsabschlџsse, der Chancengleichheit bei Bewerbungen oder der inter- und transkulturellen Kompetenzen und Kulturen in Behљrden offenbar. Zwei Grџnde sind fџr die VorlЉufigkeit und InstabilitЉt der EinstellungsverЉnderungen ausschlaggebend. Zum einen ist der Richtungswechsel bisher vorwiegend utilitaristischer Natur. Die Notwendigkeit einer Neubesinnung wird nicht aus einer kritischen VergangenheitsbewЉltigung abgeleitet, sondern fast ausschlie§lich mit zukџnftigen demographischen und Arbeitsmarktproblemen begrџndet. Zum anderen scheint der Paradigmenwechsel von auslЉnderskeptischen zu einwanderungspositiven Einstellungen zwar bei einem Teil der politischen und intellektuellen Eliten angekommen, jedoch noch nicht bis in die letzten AuslЉnderЉmter, Verfahrensrichtlinien und den gelebten Behљrdenalltag tatsЉchlich durchgedrungen zu sein.

Wie schwer sich Deutschland mit einer Runderneuerung der Migrations- und Integrationspolitik insgesamt tut, wird im Folgenden am Beispiel unterschiedlicher Integrationskonzepte diskutiert. Diese Vorstellungen schwanken in der Politik, aber auch in der Wissenschaft zwischen den Extremen klassischer Assimilationskonzepte und dem PlЉdoyer dafџr, den Integrationsbegriff gЉnzlich aufzugeben (Abschnitt 1). Ein Mittelweg zwischen diesen beiden Positionen, Integration entweder als einseitige Anpassung der Einwanderer anzusehen oder aber als gesellschaftlich und wissenschaftlich relevantes Thema zu negieren, besteht darin, ein pluralistisches und offenes Integrationskonzept zu entwickeln, welches sich auf die mљglichst chancengleiche Teilhabe aller Menschen an den als wichtig erachteten Teilbereichen eines gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs bezieht (Abschnitt 2). Angesichts der Tendenzen zunehmender transnationaler Beziehungen und SozialrЉume erscheint es schlie§lich angeraten, mittelfristig die Migrations-Integrations-Problematik in ein erweitertes dynamisches Konzept sozialrЉumlicher MobilitЉt einzubetten (Abschnitt 3).

Zwischen Assimilation und Abschaffung des Integrationsbegriffs

Integrationsdiskussionen changieren in Deutschland Р wie џbrigens auch in vielen anderen LЉndern Р zwischen den Positionen eines liberalen Multikulturalismus und einer Anpassungspolitik an die Mehrheitsgesellschaft. WЉhrend der Begriff der Assimilation im angelsЉchsischen Sprachgebrauch sehr vielfЉltig und breit verwendet wird, steht er in der deutschen Migrationsdebatte doch recht eindeutig fџr die sozio-kulturelle, sprachliche und identifikatorische Anpassung der Einwanderer an die Р als mehr oder weniger homogen gedachte Р Kultur und an das Sozialsystem der dominanten Ankunftsgesellschaft (Bade/Bommes 2004). Gelungene Integration ist dementsprechend die Herstellung gesellschaftlichen Zusammenhalts durch die Unter- und Einordnung von Zugewanderten in die bestehende dominante Struktur und Kultur. Diese Position der Assimilation wird Р so wird im folgenden Abschnitt gezeigt Р durchaus auch heute noch, also unter den Bedingungen des skizzierten beginnenden Wandels der Migrations- und Integrationspolitik, in Wissenschaft und Politik massiv vertreten. Sie findet sich in vielfЉltigster Weise in IntegrationsplЉnen und Fљrderprojekten, in integrationsbezogenen Messkonzepten und Indikatorensystemen (Abschnitt 1.1).

Als eine Art radikaler Gegenentwurf und Aktualisierung der Multikulturalismus-Debatten kann dagegen eine in Wissenschaft und Politik neuerlich entstandene Position gedeutet werden, der zufolge der Begriff und die Konzepte der Integration grundsЉtzlich abgeschafft werden sollten. Demnach wЉre jede Art des Nachdenkens џber Integration immer der Versuch, ein DominanzverhЉltnis zu zementieren oder zu schaffen zwischen denjenigen, die integriert werden sollen und dem unterstellten Gesellschaftsganzen, in das integriert werden soll (Abschnitt 1.2). Nach der Diskussion dieser beiden Extreme wird dann in Abschnitt 2 die Option eines breiteren Teilhabekonzeptes vorgestellt.