Integration als mљglichst chancengleiche Teilhabe

Beide Extreme Р eine wissenschaftliche oder politische Engfџhrung des Integrationsthemas im Sinne von monistischer Assimilation und das PlЉdoyer fџr die Abschaffung des Integrationsthemas insgesamt Р sind nicht zielfџhrend, wenn es darum geht, gesellschaftliche Wirklichkeiten differenziert zu analysieren und Bereiche gesellschaftspolitischer Handlungs- und Gestaltungsherausforderungen zu identifizieren. Ein fџr Wissenschaft und Politik brauchbarer Mittelweg ergibt sich, wenn man das Integrationskonzept erweitert und pluralisiert. Hier kann an die †berlegungen von Taft (1953: 46f) angeschlossen werden, der dem monistischen Assimilationsmodell das der вpluralistischen AssimilationФ gegenџberstellt:

гThe opposite bias to the monistic is the вpluralisticФ. According to this viewpoint, two or more cultural groups can form part of the same community and, at the same time, keep assimilation down to a minimum. The failure to assimilate, in this instance, is not the result of prejudice, but of agreement on both sides to preserve and tolerate differences.У

ФPluralistische AssimilationФ ist bei Taft das, was man in Europa vielleicht вmultikulturelle IntegrationФ nennen wџrde. Dieses pluralistische Assimilationskonzept nach Taft geht davon aus, dass weder Individuen noch ethnische Gruppen gezwungen werden kљnnen bzw. sollten, ihre IdentitЉt und Werte, ihre sozialen Beziehungen und LoyalitЉten aufzugeben. Diese sind im Rahmen kollektiver Sozialisations- und Gruppenbildungsprozesse entstanden, sie kљnnen nur um den Preis schwerwiegender individueller und kollektiver IdentitЉts- und Orientierungskonflikte radikal verЉndert werden. Die Grundidee der pluralistischen Assimilation ist, diese Vielfalt unterschiedlicher Kulturen in einer multikulturellen Gesellschaft nebeneinander bestehen zu lassen. Das Vorrangige sind die unterschiedlichen Referenzrahmen der einzelnen Gruppen (vgl. aus wissenssoziologischer Perspektive Љhnlich Soeffner/Zifonun 2008). Integration im Sinne des Bemџhens um einen gemeinsamen вVerhaltenskodexФ, wie es im Aufruf вDemokratie statt IntegrationФ hei§t, wird zwar nicht als Zielgrљ§e aufgegeben, am Anfang und im Mittelpunkt aber steht die Anerkennung der Vielfalt unterschiedlicher Interessen, Gruppen und Kulturen.

Als drittes idealtypisches Modell benennt Taft das der вinteraktionistischen AssimilationФ. In diesem Fall handeln die unterschiedlichen ethnischen, kulturellen, religiљsen etc. sozialen Gruppen in einer Gesellschaft einen gemeinsamen Werte- und Ordnungsrahmen aus, innerhalb dessen aber ansonsten keine vollstЉndige Verschmelzung, sondern ein respektvolles Miteinanderleben stattfindet:

гAssimilation is conceived as the process by means of which persons originally possessing heterogeneous frames of reference converge towards common frames of reference as a result of social interaction. (Й) Assimilation is thus viewed by us in the light of this two-way interaction with resulting group norms emerging from the interaction of the original norms of the members of both groups.У (ebd.: 49, 51).

Dies fџhrt zu einem Integrationskonzept, welches zwischen den Extremen der monistischen Assimilation einerseits und der Ablehnung des Integrationsgedankens zugunsten einer einfachen Anerkennung von Vielfalt andererseits bewegt. Eine so verstandene interaktionistische und teilhabeorientierte Integration setzt an dem Gedanken der mљglichst chancengerechten Teilhabe aller Menschen und sozialen Gruppen einer Gesellschaft bzw. eines komplexen Verflechtungszusammenhangs von Menschen (Elias 1986) an. Integration ist dann vor allem ein wechselseitiger VerstЉndigungsprozess und eine Einladung zur Teilnahme an allen fџr wichtig erachteten gesellschaftlichen AktivitЉten und Bereichen (vgl. allgemein auch MITI 2008: 21ff; Carrera 2008: 14, 59; Anthias 2012: 6ff). Die Grundidee lЉsst sich sehr gut unter Bezugnahme auf ein von Berry (1997) vorgeschlagenes Vier-Felder-Schema zur Begrџndung von гAkkulturationsstrategienТ verdeutlichen.[8] In seinem bekannten und Љltere Arbeiten zusammenfassenden und weiterentwickelnden Aufsatz behandelt Berry den Zusammenhang zwischen Einwanderung, Akkulturation und Adaptation.

Im Zentrum stehen nicht ethnische Inklusions-/ExklusionsverhЉltnisse (wie bei dem Esserschen Modell in Tabelle 1), sondern Р ganz im Sinne der interaktionistischen Assimilation von Taft Р das VerhЉltnis und der Umgang zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen. In dieser Konzeption steht nicht die Frage nach einem вEntweder-oderФ (Teil der Herkunftsgesellschaft oder Teil der Ankunftsgesellschaft) im Vordergrund, sondern die Frage nach dem вsowohl-als auchФ der Teilnahme und Teilhabe an unterschiedlichen sozio-kulturellen Gruppen. Fџr Berry sind das Bewahren kultureller IdentitЉt und Charakteristika der вnicht-dominanten GruppeФ genauso wichtig wie die Teilhabe an anderen gesellschaftlichen oder kulturellen Gruppen der Mehrheitsgesellschaft.[9] Berry geht davon aus, dass nicht zuletzt im Zuge von Migrationsprozessen sehr viele Gesellschaften kulturell plural geworden sind (ebd.: 8).

In solchen pluri-kulturellen Gesellschaften mџssen die einzelnen Akteure und kulturellen Gruppen den Umgang mit Andersartigkeit, also mit anderen Einzelnen und kulturellen Gruppen gestalten. Berry identifiziert zwei grundlegende Probleme, die verschiedene kulturelle Gruppen im Umgang miteinander klЉren mџssen: In welchem Umfang sollen die kulturellen Besonderheiten (der Einzelnen und der Gruppen) aufrechterhalten werden und in welchem Umfang soll Kontakt mit anderen kulturellen Gruppen und Einzelnen gesucht bzw. gepflegt werden:

г[C]ultural maintenance (to what extent are cultural identity and characteristics considered to be important, and their maintenance strived for); and contact and participation (to what extent should they become involved in other cultural groups, or remain primarily among themselves).У (ebd.: 9).

Ausgehend von diesen beiden Dimensionen Р вBeibehaltung kultureller IdentitЉt und Charakteristiken (der nicht-dominanten kulturellen Gruppen)Ф und вKontakt mit und Teilhabe an anderen kulturellen Gruppen bzw. an GesamtgesellschaftФ Р gelangt Berry zu dem folgenden Vier-Felder-Schema in der Tabelle 2.

 

Tabelle 2: Vier Akkulturationsstrategien nach Berry (1997: 10)

  Beibehaltung kultureller IdentitЉt und Charakteristiken (nicht-dominanter kultureller Gruppen)
Ja Nein
Kontakt mit und Teilhabe an anderen kulturellen Gruppen bzw. an Gesamtgesellschaft Ja Integration Assimilation
Nein Separation Marginalisierung

 

Auch wenn die Konzepte von Esser (Tabelle 1) und Berry (Tabelle 2) zunЉchst viele Ђhnlichkeiten aufweisen, baut das erstere auf einer klaren entweder-oder-Logik von Inklusion/Exklusion auf, wЉhrend das zweite von einer sowohl-als-auch-Logik der Teilhabe ausgeht:

гWhen there is an interest in both maintaining oneХs original culture, while in daily interactions with other groups, Integration is the option; here, there is some degree of cultural integrity maintained, while at the same time seeking to participate as an integral part of the larger social network.Т (ebd.: 9, Hervorhebung im Original).

Auf der Grundlage einer breiten Revision der US-amerikanischen, australischen und teilweise auch der westeuropЉischen Literatur kommt Berry zu dem empirischen Ergebnis, dass gelingende Teilhabe aller Gruppen in Migrationsgesellschaften am besten funktioniere, wenn dem Zusammenleben ein Integrationskonzept in diesem Sinne einer sowohl-als-auch-Logik zugrunde liege: sowohl Beibehaltung kultureller IdentitЉt und Charakteristiken der nicht-dominanten kulturellen Gruppen als auch Kontakt mit und Teilhabe an anderen kulturellen Gruppen bzw. an der Gesamtgesellschaft (vgl. auch Berry et al. 2006: 232ff).

Damit kommt Berry im Vergleich zu Esser im Hinblick auf die gelungene Sozialintegration und positive Teilhabeergebnisse in Migrationsgesellschaften zu genau gegenteiligen Schlussfolgerungen. WЉhrend Esser eindeutig die Assimilation fџr zielfџhrender hЉlt und dies in einem neueren Aufsatz (2009) empirisch zu begrџnden sich bemџht, ist Berry der Meinung, dass die Integration (oder in Essers Worten: die Mehrfach-Inklusion) generell die bessere Strategie sei:

гAcculturation strategies have been shown to have substantial relationships with positive adaptation: integration is usually the most successful; marginalisation is the least; and assimilation and separation strategies are intermediate. This pattern has been found in virtually every study, and is present for all types of acculturating groupsУ (ebd.: 24).

Esser kommt in seiner neueren Studie zu der Schlussfolgerung: гDeutlich wird erkennbar, dass die multiple Inklusion in keiner der Dimensionen Auswirkungen auf die Sozial-Integration in das Aufnahmeland hatТ (2009: 374f).[10] Esser kann also hinsichtlich der вmultiplen InklusionФ keine signifikant negativen Effekte auf die von ihm in spezifischer Weise gemessene Sozialintegration nachweisen. Berry hat aufgrund seiner empirischen Befunde die Integration als eindeutig der Marginalisierung, Assimilation und Separation vorzuziehende Teilhabestrategie beurteilt. Was also liegt nЉher, als das interaktionistische und teilhabeorientierte Integrationskonzept zu verfolgen bzw. zu empfehlen?

Ganz in diesem Sinne wurde im SachverstЉndigenrat deutscher Stiftungen fџr Migration und Integration (SVR) ein offenes, plurales und aktivierendes IntegrationsverstЉndnis entwickelt. Klaus J. Bade, der langjЉhrige Vorsitzende des SVR, definierte Integration als

г(Й) die mљglichst chancengleiche Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, also an Erziehung, Bildung, Ausbildung, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Gesundheit, Rechts- und Sozialsystem usw. Im Zentrum steht die Chance zur wirtschaftlichen Selbstentfaltung, also die Teilhabe an Wirtschaft und Arbeitsmarkt als Grundlage zu eigenstЉndiger Lebensfџhrung und sozialer AkzeptanzТ[11]

Integration ist also eine вErmљglichungsstrategieФ. In diesem Sinne ist Integration ein Thema fџr alle Menschen einer Gesellschaft, nicht nur fџr eine spezifische Gruppe. Dass dieses Konzept auch praktisch umgesetzt werden kann und damit praktisch gearbeitet werden kann, hat der SVR mehrfach durch den Integrations-Klima-Index gezeigt.

Erstmals wurde der im SVR-Integrationsbarometer ermittelte Index 2010 und dann wieder im Jahre 2012 erhoben. Der Integrationsklima-Index erfasst den Integrationsalltag der Menschen an der Basis der Einwanderungsgesellschaft (vgl. SVR-Jahresgutachten 2012). In einer reprЉsentativen Befragung von etwa 5.700 Personen mit und ohne Migrationshintergrund werden deren eigene Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf vier gro§e gesellschaftliche bzw. Lebensbereiche (Nachbarschaft, Arbeitsmarkt, soziale Beziehungen und Bildung) erhoben. Die Fragen werden jeweils in Bezug auf die eigenen Erfahrungen mit HeterogenitЉt (z.B. in Ausbildung und Arbeit), die wahrgenommene Umsetzung von Normen zum Umgang mit HeterogenitЉt (z.B. hinsichtlich der Chancengleichheit bei Bewerbungen), die Leistungsbeeinflussung gesellschaftlicher Bereiche durch HeterogenitЉt (z.B. bessere oder schlechtere Arbeit von Behљrden bei InterkulturalitЉt) und die zukџnftigen Verhaltenstendenzen bezџglich der HeterogenitЉt (z.B. mehr oder weniger kulturelle PluralitЉt im Bereich Wohnen oder Arbeit gestellt.[12] Erhebungskonzept und Рstrategie des SVR-Integrationsbarometers sind darauf angelegt, mљglichst gut die alltЉglich gelebte und wahrgenommene Wirklichkeit der Menschen in Deutschland im Hinblick auf das Thema der Integration zu erfassen (vgl. Abbildung 2).

 

Abbildung 2: Integrationsklima in Deutschland 2009 und 2011

Quelle: SVR-Jahresgutachten 2012, S. 42

 

Mit diesem SVR-Integrationskonzept liegt nicht nur ein theoretisch interessantes und ausbaufЉhiges, sondern auch ein bereits praktisch-empirisch erprobtes Instrument vor. Es eignet sich sowohl fџr weiter- und tiefergehende wissenschaftliche Analysen, als auch fџr praktisch-politische Aufgabenstellungen. Es geht nicht von einer unterstellten Stufenleiter der einseitigen Anpassung von Eingewanderten an von der Mehrheitsgesellschaft definierte Verhaltensmuster aus, wie dies im monistischen Assimilationskonzept der Fall ist. Es fragt vielmehr nach der wahrgenommenen Teilhabe der Menschen in wichtigen Lebensbereichen. Dabei werden nicht nur Einwanderer bzw. Migranten befragt, sondern ein reprЉsentativer Ausschnitt der deutschen Wohnbevљlkerung. Es handelt sich ferner um ein mehrdimensionales Konzept, welches ausdrџcklich relevante Themenbereiche aller in Deutschland Lebenden und nicht nur spezifische Migrantenfragen beinhaltet. Damit zielt es auf die Beleuchtung des Kerns gesellschaftlichen Zusammenlebens, nЉmlich die alltЉgliche soziale Lebenspraxis.

Interessant ist nun, dass sich bei beiden Befragungswellen generell ein Bild des pragmatisch unaufgeregten, relativ friedlichen und unkomplizierten Zusammenlebens in der Vielfalt ergab. Dieses allgemeine Wahrnehmungsmuster herrschte sowohl bei den Menschen mit wie auch ohne eigene Migrationsgeschichte vor. Die Werte fџr die wahrgenommenen Teilhabechancen lagen generell zwischen вpositivФ und вsehr positivФ. Allerdings ergaben sich diesbezџglich deutlich niedrigere Werte fџr die Bereiche Bildung und die Umsetzung von Normen der Gleichbehandlung am Arbeitsmarkt. Interessant ist, dass das Antwortverhalten der Menschen mit und ohne eigene Migrationsgeschichte nicht systematisch auseinanderfЉllt. Auch dies kann als PlЉdoyer interpretiert werden, bei der Analyse von Teilhabechancen der in Deutschland lebenden Menschen nicht einseitig natio-ethno-kulturelle Unterschiede gegenџber anderen, nicht direkt migrationsbezogenen Aspekten (wie Geschlecht, Alter oder sozialer Herkunft) zu stark zu gewichten. Zusammengefasst hat sich das SVR-Konzept von Integration als mљglichst chancengleicher Teilhabe an allen wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereichen sowohl in der gesellschaftlichen Diskussion als auch in der empirischen Forschung bewЉhrt. Es ist eine gute Ausgangsbasis fџr die zukџnftigen Herausforderungen.