Wahrhaftige Geschichte von der Spazierfahrt

Kurt Marti

Neapel sehen

 

Er hatte die Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die Fabrik aus seinem häuslichen Blickkreis. Er hasste die Fabrik. Er hasste die Maschine, an der er arbeitete. Er hasste das Tempo der Maschine, das er selbst beschleunigte. Er hasste die Hetze nach Akkordprämien, durch welche er es zu einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchens gebracht hatte. Er hasste seine Frau, so oft sie ihm sagte, heute Nacht hast du wieder gezuckt, er hasste sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. Aber die Hände zuckten weiter im Schlaf, zuckten im schnellen Stakkato der Arbeit. Er hasste den Arzt, der ihm sagte, Sie müssen sich schonen, Akkord ist nicht mehr für Sie. Er hasste den Meister, der ihm sagte, ich gebe dir eine andere Arbeit, Akkord ist nicht mehr für dich. Er hasste so viel verlogene Rücksicht, er wollte kein Greis sein, er wollte keinen kleineren Zahltag, denn immer war das die Hinterseite von so viel Rücksicht, ein kleinerer Zahltag. Dann wurde er krank. Er lag im Bett und blickte zum Fenster hinaus, er sah sein Gärtchen. Er sah den Abschluss des Gärtchens, die Bretterwand, weiter sah er nicht. Die Fabrik sah er nicht, nur den Frühling im Gärtchen und eine Wand aus den gebeizten Brettern. Bald kannst du wieder hinaus, sagte die Frau, es steht jetzt alles in Blust Er glaubte ihr nicht. Geduld, nur Geduld, sagte der Arzt, das kommt schon wieder. Er glaubte ihm nicht. Es ist sein Elend, sagte er nach drei Wochen zu seiner Frau, ich sehe immer das Gärtchen, sonst nichts, nur das Gärtchen, das ist mir zu langweilig, immer dasselbe Gärtchen, nehmt einmal zwei Bretter aus der verdammten Wand, damit ich was anderes sehe. Die Frau erschrak. Sie lief zum Nachbarn. Der Nachbar kam und löste zwei Bretter aus der Wand. Der Kranke sah durch die Lücke hindurch, sah einen Teil der Fabrik. Nach einer Weile beklagte er sich, ich sehe immer das gleiche Stück Fabrik, es lenkt mich zu wenig ab. Der Nachbar kam und legte die Bretterwand zur Hälfte nieder. Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf einer Fabrik, verfolgte das Spiel des Rauches über dem Schlot, das Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am Morgen, das Aus am Abend. Nach vierzehn Tagen befahl er, die stehen gebliebene Hälfte der Wand zu entfernen. Ich sehe unsere Büros nie und auch die Kantine nicht, beklagte er sich. Der Nachbar kam und tat, was er wünschte. Als er die Büros sah, die Kantine und das gesamte Fabrikareal, entspannte ein Lächeln die Züge des Kranken. Er starb nach einigen Tagen.

 

Aufgaben.

 

Arbeit am Wortschatz.

1. Finden Sie im Text Sätze, die dem folgenden Sinn entsprechen: a) Die Obstbäume sind im

Blühen. b) Er erhöhte die Geschwindigkeit der Maschine. c) Er wollte nicht alt werden.

d) Der Nachbar entfernte zwei Bretter aus dem Zaun.

e) Der Nachbar entfernte die Hälfte der Wand.

2. Worin besteht der Bedeutungsunterschied von a) Eile und b) Hetze?

3. Die Studenten essen in der Mensa. Und die Arbeiter?

4. In welcher Bedeutung ist das Substantiv Akkord verwendet?

a) Zusammenklang der Laune b) in Stücklohn arbeiten

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes.

1. Welche Assoziationen erweckt die Überschrift der Kurzgeschichte?

2. Wie wird die Hauptperson in den Text eingeführt? Wozu dient die Anonymität? Was haben

Sie vom Leben des Mannes erfahren? Worin bestand der Sinn seines Lebens?

3. Warum hat der Autor vermieden, den Text in Absätze zu gliedern?

4. Vereinen Sie Substantive im Text zu zwei semantischen Feldern: a) Fabrik als Arbeitsort,

b) Fabrik als Ort der Beobachtung. Welcher Unterschied fällt dabei auf?

5. Schreiben Sie die Vokabeln auf, welche die verschiedene Stimmung des Arbeiters im Bezug

auf Fabrik und Garten aktualisieren.

Zu welchen expressiven Mitteln greift dabei der Verfasser?

6. Was symbolisiert die Bretterwand im Text?

Wie ändert sich ihre Funktion im verlauf des Textes?

7. Das italienische Sprichwort lautet: “Vedi Neapoli e poi moni“ (Neapel sehen und dann

sterben). Bezeichnet Neapel eine konkrete Stadt oder einen normalerweise unerreichten

Wunsch? Warum ist im Titel das Sprichwort nicht bis zum Ende zitiert.

8. Welche Satztypen werden vom Verfasser bevorzugt: Parataxen (nebengeordnete Sätze) oder

Hypotaxen (untergeordnete Sätze)? Passen die gleichförmigen einfachen Sätze zur

Wiedergabe der Eintönigkeit des Lebens?

9. Was bezwecken die Inversionen (indirekte Wortfolge im Satz) z.B. Die Fabrik sah er nicht?

Suchen Sie im Text andere Beispiele gleichen Typs.

10. Die meisten Sätze sind asyndetisch (ohne Konjunktionen) verknüpft, aber immer wieder tritt

die Anapher (Wiederholung eines Wortes am Anfang der Sätze) auf. Unterstreicht sie die

logische Entwicklung des Gedankenganges oder wirkt sie gefühlsverstärkend?

11.Wie charakterisiert der Autor das rege Leben im Hof der Fabrik?

 

Zusätzliche Aufgaben.

1. Erläutern Sie die Begriffe: a) Akkordprämie b) Stakkato

2. Beachten Sie die Bedeutung des Substantivs Maschine (es kann eine moderne komplizierte

Werkbank sein, eine Lokomotive oder Flugzeug, auch ein Motorrad, aber kein Auto.

3. Gliedern Sie den Text in Absätze und geben Sie ihnen Überschriften.

 

Zusätzliche Fragen.

1. Können Sie etwas über Neapel erzählen?

2. Zeugt die Wortfügung in Blust von der Herkunft des Schriftstellers?

3. Warum entsteht beim Lesen der Geschichte der Beigeschmack einer leichten,

aber bitteren Ironie?

 

 

Ilse Aichinger

Das Fenster-Theater

 

Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom Haus herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alter gegenüber Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster.

Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers.

Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über der Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals – einen großen bunten Schal – und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dann lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrschte zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so dass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen. Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Haus zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. Als die Tür aufflog, stand der Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt, noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle. Der Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes Fenster sah. Die Werkstatt unterhalb war, wie angenommen hatten, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbrett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachtleuten ins Gesicht.

 

Aufgaben

Aufgaben zum Wortschatz

1. Vergleichen Sie: a) das Licht andrehen b) die Kerzen anstecken

Um welches Licht handelt es sich im Fall a)?

Welche Synonyme können in beiden Fällen angeführt werden?

2. In welcher Bedeutung kann das Verb fahren im Passiv gebraucht werden?

3. Merken Sie sich: die Brüstung – Konstruktion am Rande eines Balkons; jemandem einen

Gefallen tun – etwas, was für eine Person tut.

4. In welcher Bedeutung wird das Substantiv Wachmann im Text gebraucht?

Seine Bedeutungen: 1) eine den Wachdienst ausführende (bei einer privaten Firma

angewandte) Person. Im Plural sind zwei formen möglich – Wachmänner und Wachleute.

2) österr. Polizist.

5. Merken Sie sich: a) der Polizeiwagen b) das Überfallauto. a) Das Substantiv gehört zur

deutschen Standardsprache, es ist ein Dienstfahrzeug der Polizei b) (österr.) ein Fahrzeug,

das in Notsituationen ein Polizeikommando zum Einsatzort bringt.

6. Bestimmen Sie den Unterschied zwischen Kleiderständer und Kleiderschrank.

7. Für wen ist ein Gitterbrett bestimmt, und worin besteht seine Funktion?

8. In welcher Bedeutung ist das Substantiv Partei gebraucht? a) organisierte politische

Vereinigung; b) Rechtswesen – Gegner in einem Zivilverfahren; c) Wohnungsinhaber,

Mieter in einem Mietshaus.

 

Aufgaben zur inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung des Textes

1. Notieren Sie die Bausteine des Textes entsprechend seiner Gliederung in Absätze.

2. Welche einleitende Information bekommt der Leser über die Hauptdarsteller? Wie lässt sich

der Gebrauch des bestimmten Artikels bei der ersten Nennung der Personen erklären?

3. Wie wird der Schauplatz des Geschehens umrissen? Achten Sie auf Ortsangaben.

4. Wie wird die Einsamkeit der Frau geschildert, der Stillstand der Zeit? In welchen Sätzen tritt

Sie ganz deutlich zu Tage? Und ihre Sensationsgier dabei?

5. Wie lässt sich der Satz Alles lag zu tief unten verstehen?

6. Wie berichtet die Schriftstellerin über die Handlungen des Alten, wortkarg oder ausführlich?

Wie ist die Schilderung nominal oder verbal?

Welches Verb weist auf den Kontaktwunsch des Alten hin?

7. Warum glaubt die Frau zu wissen, dass die Handlungen des Mannes sie betreffen?

8. Warum hat sie die Polizei verständigt?

9. Was für ein Polizeikommando ist gekommen? Und warum? Welche Momente deuten an, dass

die Situation humoristisch dargestellt ist?

10. Wie wirkt das Ende der Geschichte auf den Leser?

11. Nach welchem Prinzip die Handlungen des Kindes beschrieben?

12. Gehen Sie zum Titel des Geschehens zurück. Was ist für die Frau das Fenster?

Und für den Mann und das Kind?

13. Was verdeutlicht noch das Theater?

14. Was wollte Ilse Aichinger bei ihrer Leserschaft bewirken? Den Leser unterhalten? Oder lässt

Sie ihn das Tragische an der Situation spüren, das eintönige Alleinsein des Menschen in der

Geschichte?

 

Zusätzliche Aufgaben

1. Vergleichen Sie die Bedeutung des Verbs gehen und schleichen.

2. Worin besteht der Bedeutungsunterschied der Sätze Die Tür öffnet sich und die Tür flog auf?

3. Und im Fall von schreien und krähen – das Kind „krähte vor Jubel“?

 

Kulturhistorische Aufgaben

1. Wen will der Alte darstellen, indem er einen Turban um den kopf windet, die Arme über der

Brust kreuzt und sich verneigt?

2. Schätzen Sie die Handlungsweise der Menge ein. Treibt die Menschen in solchen Fällen

die Hilfsbereitschaft oder die Neugierde an?

3. Beachten Sie: Nach der katholischen Tradition müssen Kerzen an den Fenstern angesteckt werden, wenn eine kirchliche Prozession die Kirche verlässt und sich den Häusern nähert.

 

Martin Rudo Becher

Tod im Stadion

 

Vor ein paar Tagen bin ich dem Tod begegnet.

Es war auf einer verlassenen Aschenbahn im Spätherbst. In dieser Zeit wird sie nur noch selten benutzt. Gelbe Blätter bedecken den Boden, die Kälte verlockt nicht zur Leichtathletik. Vielleicht zieht ein Unentwegter einmal seine Bahn, doch auch dieser ist sicher froh, wenn er seine Runde hinter sich hat und den Ort verlassen kann, voll Genugtuung darüber, dass er zu Unentwegten zählt. Es ist etwas Düsteres, Unheimliches an diesen verlassenen Sportstätten. Schwimmbäder, Aschenbahnen sind so tot im Winter wie eine Eisbahn im Sommer. Sie erinnern mich seltsamerweise an Friedhöfe. Und die Gewissheit, dass im nächsten Sommer wieder Hochbetrieb sein wird, spendet wenig Trost.

Ich weiß heute noch nicht, warum ich mich darauf eingelassen hatte, laufen zu gehen. Ein nicht sehr gut Bekanntes, ein Student der Rechte namens Ellenberger, hatte mich eines Tages aufgefordert, mit ihm etwas Freiluftsport zu treiben. Allein sei zu öde, zu zweit mache es Spaß. Und da mit, dem eingerosteten Tennsspieler, etwas Bewegung nicht schaden konnte, sagte ich zu.

Eines Morgens trafen wir uns dann. Gemeinsam machten wir uns zum Stadion auf.

Es war ein etwas zum Fettansatz neigender Mensch mit schwarzen Kraushaaren auf dem Kopf. Ein manischer Witzbold, der für jede Lebenslage einen Scherz wusste und auch stets die „Neuesten“ kannte. Sehr beliebt – er fehlte an keinem Fest, er war unterhaltsam (allein schon durch sein Aussehen) und bemerkenswert trinkfest. Als glatter Kerl wurde er bezeichnet, was im Alemannischen soviel wie lustig, nett heißen will.

Dass er und ich, der im Gegensatz zu ihm ziemlich unbeliebt und unglatt ist, nicht prächtig miteinander auskamen, war klar. Wahrscheinlich hatte er keinen anderen Kumpan für herbstliche Leichtathletik gefunden. Und so verfiel er dann eben auf mich.

Im Stadion angelangt, kannte ich neben dem „Neuesten“, den ich übrigens diesmal nicht besonders fand, bereits jeden der zu dem Kellerfest Geladenen, das nächsten Sonntag stattfinden sollte (ich war nicht eingeladen). Anscheinend würde in dem Keller eine ungemein glatte Bande beisammen sein. Er freute sich schon darauf und schilderte mir einige Scherzartikel, wie Plastikspinnen und so fort, die er an diesem Abend zu präsentieren gedenke und von denen er sich umwerfend erheiternde Wirkung versprach.

In einer kalten Garderobe, zu der uns ein alter Wärter den Schlüssel unter vielen Flüchen seinerseits und Beschwichtigungen unsererseits ausgehändigt hatte, zogen wir uns um.

Auch hier erzählte Ellenberger viel. Es war, als er sich verpflichtet fühlte, ohne Unterbrechung geistreich zu sein. Es tat meinen Nerven weh. Dabei interessierte ihn meine Person überhaupt nicht. Es war ihm, glaube ich, völlig egal, wessen Ohr seine Späße vernahm. Was mochte er nur tun, überlegte ich, wenn er allein war.

Wir drehten zwei Runden, legten gelegentlich Zwischenspurts ein. Ich war ziemlich erschöpft. Auch er klagte ein wenig. Er hätte am Vorabend zuviel Bier getrunken. „Es gluckst bei jedem Schritt“, scherzte er.

Nach der dritten Runde begann sich bei mir starkes Seitenstechen bemerkbar zu machen, der Atem ging pfeifend. Meine Angeschlagenheit musternd, rief er mir zu: „Der Amateur hält besser durch als Professional.“ Womit er auf mein intensives Tennistraining anspielte. Das erboste mich etwas. Ich forderte ihn zu einem Wettrennen über vierhundert Meter heraus. Es ging um eine Maß Bier, wie er vorschlug. Es war eine harte Runde. Dampfenden Atem ausstoßend wie Lokomotiven, zogen wir dahin. Ich dachte oft an Aufgabe. Er gewann mit einem knappen Vorsprung. Er war härter als ich und gab das Letzte.

Ich war auf spöttische Bemerkungen gefasst, doch auch er war zu sehr außer Atem, um reden zu können.

Später zogen wir unsere Mäntel an und setzten um auf eine Bank, für eine kurze Verschnaufpause.

Den grauen Himmel und die Aschenbahn betrachtend, sage ich: „Es ist schon etwas Trostloses, so Sportanlagen an einem kalten Herbsttag.“

Bevor er starb, sagte er noch: „Ich habe kein Bier mehr in mir zum Ausschwitzen.“ Ich merkte gar nicht sofort, dass er tot war. Dass ein Toter neben mir saß und nicht mehr Ellenberger. Er saß schief da, kraftlos, aufgelöst.

Ein Sekundenherztod, wurde ich später aufgeklärt. Verschluss der Herzarterien.

Es hatte mich sehr beeindruckt. Nicht , dass ich Ellenbogen sehr gemocht hatte, aber die Tatsache hat mir zu denken gegeben, „wie schnell es gehen kann“.

 

Aufgaben

Aufgaben zum Wortschatz

1. Schreiben Sie beim Lesen des Textes die Vokabeln zum Thema Sport heraus.

2. Erläutern Sie Durch Umschreibungen den Sinn folgender Komposita und Vokalverbindungen:

a) die Aschenbahn b) seine bahn ziehen c) zwei Runden drehen d) seine Runden hinter sich

haben e) mit knappem Vorsprung gewinnen f) die Verschnaufpause g) der Zwischenspurt

3. Wer ist ein Unentwegter?

 

Aufgaben zur inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung des Textes

1. Tritt der Ich-Erzähler im Text als Beobachter oder als eine handelnde Person auf?

2. Führt der Erzähler den Leser sofort in das Geschehen ein?

3. Welchen örtlichen und zeitlichen Hintergrund wählt er dabei? Welche Epitheta und

Vergleiche verhelfen zu einem traurigen Bild?

4. Erläutern Sie den Wechsel der Zeitformen in der Exposition und im weiteren Verlauf des

Textes.

5. Finden Sie und erläutern Sie weitere Beispiele mit verschiedenen Tempora und Modi.

6. Wie charakterisiert der Erzähler seinen Laufpartner?

7. Wie bringt der Erzähler die Einschätzung seines Laufkumpans zur Geltung?

8. Beachten Sie den gebrauch des Adjektivs glatt. Laut Text verfügt es im Alemannischen

bezogen auf Personen über eine eher positive Konnotation – unterhaltsam, lustig -, in der

Standardsprache hingegen über eine eher negative Konnotation – aalglatt, nicht

vertrauenswürdig. Auch im Munde des Erzählers bekommt die Charakteristik einen negativen

Beiklang.

9. Finden Sie im Text andere ironisch gefärbte Einschätzungen.

10. Wie sind die Beziehungen beider Personen zueinander charakterisiert?

11. Warum hat Ellenberger den Erzähler zum Freilichtsport eingeladen und in welcher

Stimmung ist er zum Stadion gekommen?

12. Wie wird der Lauf der beiden geschildert?

13. Wie empfindet der Erzähler den plötzlichen Tod seines Laufpartners?

 

Kulturhistorische Aufgaben

1. Merken Sie sich: Alemannisch – ein germanischer Dialekt, der heute in Südwestdeutschland

gesprochen wird; Grundlage des Schwäbischen und der Schweizer Dialekte.

2. Wie viele Meter lang ist die Laufbahnrunde in einem Stadion?

 

Zusätzliche Aufgaben

Formulieren Sie um:

a) Ein manischer Witzbold b) Ich weiß noch heute nicht, warum ich mich eingelassen hatte,

laufen zu gehen c) Gemeinsam machten wir uns zum Stadion auf. d) Er fehlte an keinem Fest.

e) Es war ihm völlig egal, wessen Ohr seine Späße vernahm.

 

Hellmut Holthaus

Wahrhaftige Geschichte von der Spazierfahrt