Wir sind eine demokratische Familie

 

Vor drei Jahren beschlossen wir, in unserer Familie Weihnachten abzuschaffen. Drei stimmten dafür: Ich, meine Frau und meine Tochter, Sohn Frank, damals erst drei Jahre alt, enthielt sich der stimme, er sagte nur, als er gefragt wurde: Ei, ei.

Das brachte uns auf einen Kompromiss, denn keinen Raum in der Wohnung zu haben an Weihnachten, war uns, trotz wilder Entschlossenheit, mit diesem bürgerlichen Relikt zu brechen, doch nicht geheuer.

Seitdem putzten wir am Heiligen Abend, genau ab 14 Uhr, eine Tanne (aus dem Sauerland) mit gefärbten und ausgeblasenen Eiern. Es ist ein wunderschöner bunter Baum, die Eier werden von uns, immer genau sechzig Stück, Tage vorher in Heimarbeit und mit vergnüglicher Gemeinsamkeit, ausgeblasen und bemalt. In der Küche. Es gibt bis zum heiligen Abend nur die Eierspeisen, denn irgendwo muss das, was sich innerhalb der Schalen befinden, ja bleiben.

Ein aufgeklärter, aber zufällig zu den Feiertagen angewehter Besucher stand staunend vor dem Baum und sagte: Ein Antibaum. Dem Besucher, Jurist aus alter Pastorenfamilie, war anzusehen, dass es ihm schmeichelte, in so einer fortschrittlichen Familie Gast zu sein, er bestaunte die Eier gehörig, meinte, da sei wohl viel Arbeit dran, er befühlte die Eier und war noch mehr beeindruckt, weil etliche mit Wasserfarbe, etliche mit Öl bepinselt waren, konkrete und abstrakte Musterung.

Damit aber nicht genug. Die 18 Weihnachtsplatten, die meisten davon LPs, wanderten in den Kleiderschrank ganz nach hinten, wo meine seit dreißig Jahren nicht mehr benützte Geige in einem vergammelten Kasten schmort, damit wir nicht der Versuchung erliegen sollen, sie abzuspielen, denn wir hatten uns im Laufe der Zeit eine Menge Frühlingslieder gekauft.

Die spielen wir immer ab zum Heiligen Abend, nämlich: Der Mai ist gekommen, oder: Alle Vöglein sind schon da, oder: Am Baum vor dem Tore.

Meine Tochter, sie steht vor dem Abitur, meinte zwar, was wir treiben, sei reaktionär, aber sie konnte es doch nicht lassen, damals nacheinander ihre Freundinnen einzuladen, ihnen den Baum zu zeigen, ihnen die Platten vorzuspielen. Die Freundinnen, die auch Klassenkameradinnen sind, fanden das ungeheuer aufregend und chic, sie liefen nach Hause und erzählten ihren Eltern von unserem Antibaum. Die Eltern meinten zwar, wir wären verrückt, Schriftsteller haben alle einen Dachschaden und die können sich den Dachschaden auch leisten, weil er von der Gesellschaft akzeptiert wird, aber diese Töchter haben doch erreicht, dass ihre Eltern doch unsicher wurden auf dem Gebiet der Heiligen und Stillen Nacht.

Ein Jahr später konnten einige dieser Töchter in der Schule stolz melden, dass nun sie auch einen Antibaum hätten, und im letzten Jahr gab es in unserer Siedlung keine Wohnungen mehr, in der nicht ein mit Eiern behangener Baum stand, zumindest in den Zimmern der Familien, die sich Intellektuelle, Bürger und Handelbetreibende nennen. Nur im grauen Viertel unserer Siedlung, wo diese exotischen Gewächse wohnen, von Linksradikalen auch Proletarier genannt, da hängen noch Kugeln an den Bäumen und brennen noch echte Bienenwachskerzen und da spielt man auch noch richtige Weihnachtslieder.

Aber auch dieses graue Viertel tauen wir noch auf, der Anfang wurde letzte Weihnachten gemacht, als am ersten Feiertag wir unsere Fenster öffneten und mittels Verstärker unsere Lieder zur anderen Straßenseite hinüberschickten, nämlich: Der Mai ist gekommen, und: Alle Vöglein sind schon da.

Erst versuchten die Exoten von der anderen Seite gegen uns anzustinken mit: O Tannebaum, und mit: Leise rieselt der Schnee, aber da sie keine Verstärker hatten, ließen sie es bald.

Trotzdem. Meine Tochter und ihre Freundinnen sind sich sicher, dass uns nächstes Jahr der Einbruch in die Arbeitersiedlung gelingen wird, dass nächstes Jahr auch im grauen Viertel Antibäume stehen werden, mit Eiern behangen und mit Frühlingsliedern garniert. Man muss bei den Leuten nur behutsam vorgehen, darf nicht erkennen lassen, dass es eine linke, vielleicht sogar eine radikal linke Initiative ist, meine Tochter tarnt das mit Mode, gegen die auch Proletarier nichts einzuwenden haben, im Gegenteil, für Mode sind sie immer zu haben, sofern sie dafür bezahlen müssen und nicht dafür bezahlt bekommen.

So schön dieser Erfolg ist, mit Konsequenz seit drei Jahren betrieben, was uns gar nicht so leicht fiel, wie es vielleicht den Anschein ist, dass wir ihn in das Viertel tragen konnten und vielleicht auch das Exotenviertel unterwandern können, es gab in eigenem Haus einen Misston, der uns letztes Weihnachten das Blut gerinnen ließ. Denn bei unserer Aufgabe, allen Menschen, die guten Willen sind, den Antibaum schmackhaft zu machen, vergaßen wir ganz, dass unser Sohn Frank älter geworden ist. Damals, als wir den Entschluss fassten, Eier statt Kegeln an den Baum zu hängen, da sagte er nur: Ei, ei.

Jetzt aber, letztes Weihnachtsfest, meine Frau brutzelte in der Küche: die Gans, meine Tochter vertrug in die Nachbarschaft einen Waschkorb voll von Geschenken, und ich lümmelte im Sessel in meinem Zimmer und las in dem Buch: „Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus“, da riss es mich hoch, denn ganz laut, mit Verstärker natürlich, lief in unserer Wohnung das Lied von der Stillen und Heiligen Nacht ab.

Sohn Frank hat im Kleiderschrank gestöbert, die Platten gefunden, er saß im Wohnzimmer auf dem Teppich, im ihn herum die Weihnachtsplatten, es legte sie auf, spielte sie ab, und was das Erschütterndste: Er sang mit.

Meine Frau kam schwitzend aus der Küche gelaufen und rief: Mein Gott, wo hat das Kind das nur her!

Von mir nicht, sagte ich.

Denkst du, vielleicht von mir?

Wir stritten uns dann noch lautstark, aber viel zu hören war nicht von unseren Worten, denn Sohn Frank war bei O Tannenbaum angekommen.

Wir ließen ihn erst gewähren, dann aber nahmen wir ihn ins Gebet: Das dürfe er nie wieder tun, da werde das Christkind böse und bringe keine Geschenke mehr, und überhaupt, was werden die Nachbarn sagen, die müssen uns ja für verrückt halten und glauben, wir hätten einen Dachschaden.

Da wir eine tolerante Familie sind, mit Sinn für Fortschritt und dem Glauben an den Verstand, haben wir das unserem Sohn natürlich nicht mit Holzhammermanier beigebracht, wir haben ihm den Unterschied erklärt, der zwischen einem Baum mit Kegeln und einem Baum mit Eiern besteht.

Frank hörte zu, ganz Innerlichkeit, ganz unser Sohn, was die Aufmerksamkeit betrifft.

Meine Frau ging wieder in die Küche zu ihrer Gans, ich zu meiner Einführung in … Die Tochter kam sich brüstend zurück, sie war ihre Geschenke endlich losgeworden, da hörten wir es wieder, diese grässlichen Weihnachtslieder, wie der Schnee leise rieselt. Ich lief zu meiner Frau in die Küche, ich war wütend, ich schrie sie an: Sofort verbietest du deinem Sohn, dass er diese Platten spielt.

Aber sie stand vor dem Herd und weinte, sie sagte nur: Die Gans ist verkohlt. So ein Unglück. Das ganze Fest ist verdorben, Weihnachten ohne Gans … mein Gott, wenn das meine Mutter noch erlebt hätte … mein Gott.

 

Aufgabe

Arbeit am Wortschatz

1. Sind die Vokabeln nicht geheuer und ungeheuer synonym oder haben sie unterschiedliche

Bedeutungen: a)… warum, trotz wilder Entschlossenheit, mit diesem bürgerlichen Relikt zu

brechen, doch nicht geheuer.“ b) „Die Freundinnen, die auch Klassenkameradinnen sind,

fanden das ungeheuer aufregend und chic.“

2. Erläutern Sie die Bedeutung der übertragen gebrauchten Wörter und Wortfügungen: a) wilde

Entschlossenheit b) ein angewehter Besucher c) einen Dachschaden haben d) exotische

Gewächse e) das Blut gerinnen lassen f) im Gebet nehmen g) D etwas mit

Holzhammermanier beibringen

3. Wie ist die Bedeutung der Verben: wandern, unterwandern, auftauen, anstinken, sich brüsten?

Fragen zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes

1. Mit welcher Zeremonie hat die Familie beschlossen zu brechen? Welche Symbole gehören zu

Weihnachten und Ostern? Auf welche Weise hat die Familie beide Symbole verbunden? Wer

bewirkt, dass die Familie zur alten Tradition zurückkehrt? Steckt die Wertschätzung für die

alte Tradition nur im Kind?

2. Was ist unter Antibaum zu verstehen? In welchem Ton berichtet der Autor über den Besuch

eines Juristen? Erläutern Sie: „ein aufgeklärter Besucher“, „ein völlig angewehter Bekannter.

In welchem inhaltlichen Zusammenhang stehen folgende Satzteile zueinander: „aus alter

Pastorenfamilie“ und „Dem Besucher ... war anzusehen, dass es ihm streichelte, in so einer

fortschrittlichen Familie Gast zu sein“.

3. Welche inhaltliche Momente wirken humoristisch?

4. Der Text ist im Großen und ganzen ausdrucksstark. Der Verfasser verwendet Wörter, die in

verschiedenen kommunikativen Bereichen vorkommen und verschiedenen Stilebenen

angehören. Analysieren Sie die expressiven Mittel nach ihrer stilistischen Zugehörigkeit

und ihrem konnotativen Wert: a) stimmen, sich der Stimme enthalten, jemanden auf einen

Kompromiss bringen, von der Gesellschaft akzeptiert werden b) der Versuchung erliegen

a) schmoren, brutzeln, garnieren; d) verrückt sein, einen Dachschaden haben; gegen

b) jemanden mit etwas anstinken; e) chic sein

5. Beschreiben Sie die Reaktion verschiedener Altersgruppen und sozialer Schichten auf den

Bruch mit alten Traditionen. Warum schätzt die Tochter des Erzählers die Handlungsweise der

Eltern als „reaktionär“ ein?

6. Welche soziale Funktion wird Proletariat genannt? Erläutern Sie die Charakteristika, die

ihnen gegeben werden: „Exoten, das exotische Gewächs“, „das graue Viertel unserer

Siedlung“.

7. Suchen Sie im Text Mittel der Bildlichkeit, bestimmen Sie ihre Art und ihre Funktion.

8. Wie ist der Gesamtton der Geschichte?

 

Zusätzliche Fragen

Was können Sie über Weihnachten und Ostern erzählen?

 

Peter Bichsel

San Salvador

Er hatte sich eine Füllfeder gekauft.

Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige Wellenlinien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb „mir ist es hier zu kalt“, und dann, „ich gehe nach Südamerika“, dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie garantierte man, dass sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch großzügig seinen Namen darunter.

Dann saß er da.

Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate, dachte an irgendwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel mit den Wellenlinien, entleerte seine Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es schon zu spät.

Die Probe des Kirchenchores dauert bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab.

Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in blauschwarzer Schrift sein Name Paul.

„Mir ist es hier zu kalt“, stand auch darauf.

Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas müsste ja geschehen sein.

Sie würde in den „Löwen“ telefonieren.

Der „Löwen“ ist mittwochs geschlossen.

Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht.

Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem Ringfinger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlang fahren, dann langsam den Mantel aufknöpfen.

Dann saß er da, überlegte, wenn er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchsanweisung für den Füller noch einmal – leicht nach rechts drehen – las auch den französischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder seinen Zettel, dachte an Palmen, dachte an Hildegard.

Saß da.

Um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder?

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.

Aufgaben

Arbeit am Wortschatz

1. Welche Synonyme sind im Text die Bezeichnung eines gleichmäßig geschnittenen

rechteckigen Papiers verwendet?

2. Wodurch unterscheidet sich ein Zettel von einem Bogen Papier?

3. Übersetzen Sie in Ihre Muttersprache folgende Sätze mit dem Verb überfliegen. Beachten Sie, in welchen Situationen es dabei gebraucht wird: a) Die Wildenten überflogen den See. b) (ugs) Er überflog die Kinoinserate. c) (ugs.) Mit einem Blick überflog der Redner die Zuhörer. d) (geh.) Das zarte Rot überflog ihr Gesicht.

Wie ist der Unterschied zwischen lesen und einen Text überfliegen?

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes.

1. Welche Vorstellung wird beim Lesen der Überschrift ausgelöst?

2. Wie wird die handelnde Person in den Text eingeführt? Was will der Autor damit erreichen?

3. Was erfährt der Leser über die Vergangenheit oder über die soziale Lage der Figur?

4. Wie stellen Sie sich den Gemützustand der Figur vor?

5. Beschreiben Sie, wie die Eintönigkeit des Lebens, die Unzufriedenheit der Eheleute

miteinander, ihr Nebeneinanderleben, in der Geschichte zur Geltung gebracht sind.

6. Zu welcher Ausdrucksweise greift der Autor, zu einer nominalen oder einer verbalen?

7. Auf welche Weise wird die Folge der Handlungen markiert? Welches Redewort ist

auffallend? Können Sie jetzt selbst bestimmen, welche Wortwiederholung Anapher heißt?

8. Warum sind manche Sätze als Absätze ausgesondert?

9. In welchem inhaltlichen Zusammenhang stehen folgende Sätze zueinander: „Mir ist es hier zu

kalt“ und „Ich gehe nach Südamerika“?

10. Welche symbolische Bedeutung ist dem Ländernamen San Salvador zugeschrieben?

11. Welchen Redewechsel bezeichnen das Präsens und der Konjunktiv?

12. Schildern Sie die Situation, wenn Paul seine geheimen Wünsche in der tat umsetzen würde.

13. Welche Reaktion würden Sie Pauls Frau Hildegrad zutrauen, wenn sie nach Hause kommt

und Paul nicht antrifft? Umreißen Sie die Situation mit einigen Worten.

 

Zusätzliche Aufgaben

1. Schreiben Sie aus dem Text die Vokabeln heraus, die auf das Thema Schreiben bezogen

werden können.

2. Was bedeutet das Substantiv das Inserat?

 

Merken Sie sich.

Die Papeterie – schweizerisch in Deutschland – Schreibwarengeschäft.

 

Peter Bichsel

 

Ein Tisch ist ein Tisch

 

Ich will von einem Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben, kaum etwas unterscheidet ihn von den anderen. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen, einen grauen Rock und im Winter einen langen grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals, dessen Haut dunkel und runzelig ist, die weißen Hemdkragen sind ihm viel zu weit.

Im obersten Stock des Hauses hat er ein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer anderen Stadt. Bestimmt war einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo die Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Bett und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker, daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild.

Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit einem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.

Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.

Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß und nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielen – und das Besondere war, dass das alles dem Mann plötzlich gefiel.

Er lächelte.

„Jetzt wird sich alles ändern“, dachte er. Er öffnete obersten Hemdknopf, nahm den Hut in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloss sein Zimmer auf.

Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken. Und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert. Und den Mann überkam eine große Wut.

Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff, dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf den Tisch zu trommeln und schrie dazu immer wieder; „Es muss sich ändern, es muss sich ändern!“ Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder, und nichts änderte sich.

„Immer derselbe Tisch“, sagte der Mann, „dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?“ Die Franzosen sagen zu dem Bett „li“, dem Tisch „tabl“, nennen das Bild „tablo“ und den Stuhl „schäs“, und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch.

„Weshalb heißt das Bett nicht Bild“, dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte,

bis die Nachbarn an die Wand klopften und „Ruhe“ redeten.

„Jetzt ändert es sich“, rief er, und sagte von nun an dem Bett „Bild“.

„Ich bin müde, ich will ins Bild“, sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl „Wecker“.

Er stand also auf, zog sich an, setze sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wenn er wie sagen könnte.

Dem Bett sagte er Bild.

Dem Tisch sagte er Teppich.

Dem Stuhl sagte er Wecker.

Der Zeitung sagte er Bett.

Dem Spiegel sagte er Stuhl.

Dem Wecker sagte er Fotoalbum.

Dem Schrank sagte Zeitung.

Dem Teppich sagte er Schrank.

Dem Bild sagte er Tisch.

Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.

Also:

Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an den Füßen fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand.

Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen war ein Mann.

Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie es der alte Mann machte, auch die anderen Wörter umtauschen:

läuten heißt stellen.

frieren heißt schauen.

liegen heißt läuten.

stehen heißt frieren.

stellen heißt blättern.

So dass es dann heißt:

Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Morgen schaute.

Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße.

Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte.

Hier und da träumte er in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.

Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er musste die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er musste lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen.

Seinem Bild sagen die Leute Bett.

Seinem Teppich sagen die Leute Tisch.

Seinem Wecker sagen die Leute Stuhl.

Seinem Bett sagen die Leute Zeitung.

Seinem Stuhl sagen die Leute Spiegel.

Seinem Fotoalbum sagen die Leute Wecker.

Seiner Zeitung sagen die Leute Schrank.

Seinem Schrank sagen die Leute Teppich.

Seinem Spiegel sagen die Leute Fotoalbum.

Und es so weit, dass der Mann lachen musste, wenn er die Leute reden hörte.

Er musste lachen, wenn er hörte, wie jemand sagte: „Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel!“ Oder wenn jemand sagte: „Jetzt regnet es schon zwei Monate lang.“ Oder wenn jemand sagte: „Ich habe einen Onkel in Amerika.“

Er musste lachen, weil er all das nicht verstand.

Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf.

Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen. Das war nicht so schlimm.

Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen.

Und deshalb sagte er nichts mehr.

 

Er schwieg,

sprach nur noch mit sich selbst,

grüßte nicht einmal mehr.

 

Aufgaben

Arbeit am Wortschatz

Suchen Sie im Text Sätze, die den folgenden Sinn haben: a) Er hatte einen Hals, dessen Haut faltig war. b) Es ging schneller. c) Er schwang in den Knien auf und ab. d) Er zog seine Lider zu. e) Mit Muskelspannung ballte er seine Hände zu Fäusten. f) Er konnte nicht sprechen. g) Er lernte die neuen Wörter.

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes

1. Geben Sie den Inhalt der Geschichte wieder.

2. Schreiben sie die inhaltliche Gliederung des Textes auf.

3. Der Text stellt eine Erzählung in einer Erzählung dar. Wie präsentiert sich der Erzähler?

Tritt er als eine handelnde Figur auf oder bloß als Beobachter? An welcher Stelle verwandelt

sich der Monolog des Erzählers in eine art Dialog mit den Lesern?

4. Die Geschichte über einen Einzelnen könnte die Geschichte über Mehrere sein. Wie wird das

in den ersten zwei Absätzen zur Geltung gebracht?

5. Welchen Zwecken dient die ausführliche Aufzählung der Kleidungs- und Möbelstücke?

Erläutern Sie den Wechsel der Zeitformen.

6. Sondern Sie die wiederholt gebrauchten Epitheta aus. Ist das Adjektiv grau bloß eine

Farbenbezeichnung oder ist damit eine symbolische Bedeutung verbunden?

7. Was macht die äußere Gestaltung des Textes auffallend?

8. Was beabsichtigt der Autor mit der graphischen Ausformung des letzten Satzes?

 

Jo Hanns Rösler