Ein gefährlicher Beruf

 

Kitty hatte ihre kluge Stunde.

Sie ging zu einem großen Versicherungskonzern.

„Versichern Sie auch gefährliche Berufe?“, fragte sie.

„Jederzeit.“

„Auch Löwenbändiger?“

„Löwenbändiger, Schlangenbeschwörer und Turmseilartisten.“

„Auch Rennfahrer?“

„Rennfahrer, Kunstflieger und Kanalschwimmer.“

„Und Großwildjäger?“

„Großwildjäger, Tiefseeforscher und Adlerhorstfotografen.“

„Das lässt sich hören!“, sagte Kitty.

Kitty sah sich im Raum um.

Dann gab sie sich einen Ruck und sagte:

„Unter diesen Umständen …“

„Bitte!“

„Würden Sie auch mich versichern?“

„Haben Sie einen gefährlichen Beruf?“

„Den gefährlichsten von allen.“

„Was sind Sie?“

„Hausfrau“, sagte Kitty.

„Hausfrau?“, fragte der Versicherungsmann.

Kitty nickte.

„Eine Hausfrau ist stündlich von Gefahren umgeben“, sagte sie, „innerhalb von zehn Minuten kann sie sich in der Küche dreimal geschnitten, gestochen, gebrannt und verbrüht haben. Innerhalb der gleichen zehn Minuten kann sie sich einen Fuß brechen, einen Bruch heben und eine Hand verknacksen. An einem Vormittag kann sie sich einen Finger mit dem Wiegenmesser wegwiegen, den zweiten Finger beim Kartoffelschälen abschälen, den dritten Finger beim Schnitzelklopfen zerschlagen, mit dem vierten Finger in den Multimix kommen und sich den fünften Finger mit dem Brothobel absäbeln. Das war eine Hand, jetzt kommt die andere.

Die zweite Hand zerknackt sie unweigerlich, wenn sie den Fleischwolf auseinander nimmt. Beim Nachlegen im Herdkönnen ihr glühende Kohlen auf den Fuß fallen, ihr Haar kann Feuer fangen, der Topf mit dem kochenden Wasser kippt und verbrüht ihr Hände, Arme und Beine.

Auf einem Kirschkern rutscht sie aus und auf die glühende herdplatte setzt sie sich. Das Bügeleisen zerschmettert ihr den Fuß und das hochprallende Bügelbrett schlägt ihr die Zähne ein. Beim Nachschauen nach einem Kurzschluss gerät sie mit der Nasenspitze in den Stromkreis und sprüht Funken.

Inzwischen explodiert ein Dampftopf, fliegt ein Rührwerk auseinander, die Spicknadel sticht sie unter den Daumennagel und aus der Bratpfanne spitzt ihr kochendes Fett ins Gesicht…“

„Genug! Genug! Hören Sie auf!“

„Geben Sie es jetzt zu?“

„Eine Hausfrau, die kocht, zu versichern“, rief der Versicherungsmann,

„welch gewagtes Risiko!“

Kitty beruhigte ihn:

„Wieso nicht?“

Kitty lächelte sanft:

„Weil wir Frauen sind. Wenn allerdings die Männer kochen würden…“

 

Aufgaben

Arbeit am Wortschatz

Mit welchem Küchengerät oder in welcher Situation kann man sich folgende Wunden beibringen? Schneiden (abschneiden), absäbeln, stechen, verbrennen, verbrühen, verknacksen, zerschmettern.

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes

1. In welcher Redeform ist der gesamte Text gestaltet?

2. Wo sind die sprachlichen Besonderheiten der Figurenrede in diesem Text?

3. Nach welchem inhaltlichen Prinzip sind die Frage-Antwort-Einheiten ausformuliert?

Wie ist die Semantik der zusammengesetzten Substantive?

4. Welche syntaktischen Besonderheiten unterscheiden den Monolog der Frau vom Dialog

der beiden handelnden Personen?

5. Warum wird die invertierte Wortfolge in den meisten Sätzen des Monologs verwendet?

 

Zusätzliche Aufgaben

1. Was ist die Bedeutung des Verbs versichern in diesem Kontext?

2. Worin besteht der Bedeutungsunterschied zwischen Nest und Horst?

3. Was sind die Berufsbereiche von einem Artisten und einem Schauspieler?

4. Was ist ein Multimix?

5. Was unterscheidet semantisch verknacksen und zerdrücken?

6. Ist ein Fleischwolf ein Wolf aus Fleisch oder ein Wolf, der Fleisch frisst?

 

Helga M. Novak

Gepäck

 

Wir haben kein Geld. Wir haben viel Gepäck. Alles, was wir besitzen, tragen wir in Koffern und Säcken verschnürt bei uns. Es sind fünf Gepäckstücke.

Wir kommen in einem Dorf an. Die Bürgermeisterei, die Kirche, ein Gasthaus mit Saal liegen eng beieinander. Wir fragen nach Arbeit. Der Wirt sagt, wir haben selber Arbeitslose. Noch dazu Männer.

Wir übernachten in dem Gasthaus. Das Zimmer ist billig. Es hat kalte Fliesen. Die Fliesen sind marineblau und torfrot gemustert. Das Zimmer hat einen Balkon. Der Balkon hängt über den Markt. Auf dem Markt wird angepriesen, gefeilscht, geschimpft, gelobt, alles abgefasst und berochen. Auf den Obstständen türmen sich rote, gelbe, grüne Pyramiden aus Früchten. Es riecht nach Kaffee. Die Pfanne in der Kaffeerösterei dreht sich. An langen Stangen werden enthäutete Lämmer vorübergetragen. Gerda und ich packen. Wir tragen das Gepäck in den Hof. Während ich hinaufgehe, um einen schweren Koffer zu holen, bewacht Gerda das Gepäck. Ich komme mit dem schweren Koffer hinunter. Gerda ist weg. Ich rufe, Gerda, Gerda. Ich gehe noch einmal hinauf. Ich komme hinunter. Zwei Gepäckstücke sind verbunden. Ich rufe. Ich suche. Ich gerate in die Menschenmenge auf dem Markt. Ich werde aufgehalten. Ich schreie. Ich drehe mich im Kreis. Ich kehre zurück. Es sind nur noch drei Gepäckstücke da. Ich rufe. Ich weine. Ich heule. Gerda kommt. Sie lacht. Ich sage, wo warst du? Sie sagt, in der Küche, Bohnen brechen. Ich sage, aber die grüßten Stücke. Sie sagt, wir hatten sowieso zu viel. Ich sage, jetzt haben wir gar nichts mehr.

Sie sagt, wir haben allerhand gewonnen.

Ich sage, ich habe an dem Zeug gehangen.

Sie sagt, entweder irgendwohin gehören oder gar kein Gepäck haben.

Jetzt sind Gerda und der Wirt schon lange verheiratet. Sie haben mich adoptiert. Ich bewohne das Zimmer mit den marineblauen torfroten Fliesen und dem Balkon, der über den Markt hängt.

 

Aufgaben

Arbeit am Wortschatz

1. Welcher Unterschied besteht zwischen: a) loben und anpreisen; b) handeln und feilschen;

c) riechen und beriechen?

2. Welches Substantiv liegt dem Verb enthäuten zu Grunde?

Welche Bedeutung verleiht den Verben das Präfix ent-?

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes

1. Aus welchen inhaltlichen Bausteinen besteht der Text?

2. Durch welches Personalpronomen werden die handelnden Personen in das Geschehen

eingeführt? Wie ist seine Bedeutung?

Wann wird es gegen die Personalpronomina ich und sie ausgetauscht?

3. Was haben Sie anhand des Textes über beide Figuren erfahren? Wann wird klar, dass die

Personen Frauen oder Mädchen sind? Wie stellen Sie sich ihre Vergangenheit vor?

4. Wie schildert die Erzählerin das Dorf, in das die beiden geraten?

5. Wie ist das Zimmer beschrieben, wo sie übernachten?

Analysieren Sie die Struktur der Epitheta marineblau und torfrot.

6. Welche Sinnesempfindungen bilden die Grundlage der Schilderung des Lebens auf dem

Markt? Worin besteht die Funktion des Passivs?

Welche Metaphern tragen zur Anschaulichkeit bei?

7. Wie ist der Bau der Sätze, in denen die Aufregung der Erzählerin zum Ausdruck gebracht

wird?

8. Finden Sie den Textabschnitt, in dem der Monolog in den Dialog übergeht.

Worin besteht die Eigenart des Dialogs bei Helga M. Novak?

 

Zusätzliche Aufgaben

1. Was muss mit den grünen Kaffeebohnen zuerst machen, bevor man sie mäht?

2. Vergleichen Sie die Sätze: Das Bild an der Wand gegenüber gehangen. – Ich habe an dem

Zeug gehangen.

 

Gabrielle Wohlmann

Kompakt

 

„Das Meer ist fast grün“, sagte die amerikanische Kusine. „Wie gestern“, sagte Lore. „Langweilig, langweilig“, sagte Meline. Es war gegen zwei und zu heiß.

Die drei Frauen lagen im Schattenparallelogramm, das die Badehütte nach Norden warf. „Mir fällt kein so heißer Sommer ein“, sagte Meline. „Bloß gut für die Kinder.“ – „Sie spielen nett“, sagte Susan. Wieder ärgerten sich die beiden anderen über ihren Sing-Sang. Lore machte die Augen zu. Meline starrte über ihr Buch weg in Richtung Meer. Winzig vor dessen Blaugrün die Kinder. Mickey, Fredchen, Babette – sie zählte nur drei, oder nur bis drei, kam nicht weiter, döste vielleicht ein, und fuhr dann fort zu lesen. „Es sind aber nur drei“, sagte Susan laut. „Ich sehe nur drei Kinder“. – Lore seufzte. Sie war nie mehr richtig wach, seit sie hier waren. Seit Alfreds Abschiedskuss am Hafen. Oder schon früher. Diese Hitze, die sich gleich blieb. Sie wälzte sich auf den Bauch. Meline legte das Buch weg und nutzte die Gelegenheit, unbehelligt Lores Krampfaden zu beäugen, befriedigt gewann sie den hässlichen Eindruck. „Sie schaufeln und schaufeln“, sagte Susan. „Ich sehe nur drei von ihnen.“ – Gäb`s nur Regen“, sagte Lore, sie machte ihren Unterarm nass dabei, schmeckte Schweiß auf der sandigen Zunge.

„He, steh nicht rum, Fred, die Stelle muss noch dichter werden.“ Mickey schnaubte vor Anstrengung und Stolz. Mickey war ein Angeber, fand Fred. Er merkte auf einmal, dass das hier nicht gut für ihn war. Seit dem Scharlach wurde ihm jetzt manchmal schlecht, wenn er sich anstrengte. Er hatte auf einmal Angst, wovor? Mickey gab ihm einen leichten Stoß. Er hieb wieder sein Schaufelblatt in den Sand. Aber er sah gar nicht mehr richtig.

„Du, Lore“, rief Susan. „Meline! Ich seh das Evchen überhaupt nicht.“ Susan stand auf. Ihr erschrockenes und kühles Gesicht reizte die beiden anderen.

„Letzter Schliff, so“, sagte Mickey. Der Berg war glatt geklopft, er war kompakt, sein Fundament zuverlässig. Auf dem Gipfel eine Mütze aus Tang. Fredchen fühlte sich wieder wohler und stellte sich eifrig neben den tüchtigen Mickey. Jetzt war Babette niedergeschlagen. Bloß diese zwei Bösewichter zum Spielen. Sie spielte viel lieber mit Evchen. Liebes weiches zusammengekauertes Evchen, tief unten im Sandberg. Wie lang noch bis zur Flut!

 

Aufgaben

Arbeit am Wortschatz

1. In welcher Bedeutung ist das Substantiv der Singsang im Text verwendet?

a) Die Mutter beruhigte das Kind durch monotonen, einschläfernden Singsang.

b) Sein unmusikalischer Singsang fällt mir auf die Nerven.

2. Was bedeutet das Adjektiv unbehelligt im Satz Meline beäugte Lores Krampfadern

unbehelligt: a) ungehindert b) ruhig

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes

1. Wie ist die nationale Zugehörigkeit der Figuren? Kann man bestimmen,

zu welcher Mutter weiches Kind gehört?

2. Wie ist das Verhalten der Figuren zueinander? Ist das durch ihre Worte zu verstehen

oder durch ihre Handlungen?

3. Was wird am Wetter betont, und wie wirkt sich das auf die Mütter aus?

4. Wie lässt sich die Gleichgültigkeit von Lore und Meline ihren Kindern gegenüber erklären?

5. Bestimmen Sie die Rollen der Spielgefährten.

6. Finden Sie im Text den Satz, welcher das unglückliche Ende des Spieles andeutet.

7. Warum endet die Geschichte mit der Frage nach der Flut?

8. Welche Redeperspektiven verflechten sich im Text.

9. Wie ist der Themenkreis jedes Redetyps?

10. Warum heißt die Geschichte „Kompakt“?

 

Zusätzliche Aufgaben

Das Verb einfallen ist mehrdeutig.

Ordnen Sie die Erläuterungen a bis g den Sätzen 1 bis 7 zu.

1. Die Hütte ist so alt, dass sie bald einfällt. 2. Die Feinde fielen in der Nacht in die

Stadt ein. 3. Von der Straße fiel Laternenlicht in das Schlafzimmer ein. 4. Die erste Geige fiel

mit dem Hauptmotiv ein. 5. Wind fiel mit dem Ungestüm ein. 6. Mir fällt nichts Besseres ein.

7. Mir fällt kein so heißer Sommer ein.

 

a) kam plötzlich, b) erinnerte mich nicht an, c) drangen ein, d) kamen nicht in den Sinn,

e) einstürzen, f) stimmt ein, g) drang herein

 

Zusätzliche Fragen

1. Können Sie sich vorstellen, an welchem Meer sich die Handlung abspielt?

2. Kommt das Spiel der Kinder – das Eingraben in den Strandsand – häufig vor?

Worin besteht aber der Unterschied?

3. Was bedeutet die Mütze, die auf ein Grab gelegt wird?

 

Simon Garmiggelt

Alles geht zu Ende

Ich sollte mit meinem kleinen Sohn in der Stadt eine Hose und ein Hemd kaufen. Für unterwegs mit Keksen und Bonbons gut ausgerüstet, brachen wir auf. Die Unterhaltung war leicht und festlich. „Hast du dieses Hündchen gesehen?“ oder „Dieser Herr lacht so Hohoho!“ Auf dem Marktplatz stand ein schweigsamer Herr mit Luftballons. Ach Papi … . Also gut, einen grünen. Kurz danach blickte er strahlend zu ihm empor, dass es mir um das Geld nicht so leid war. Das Geschäft war voll, aber als wir endlich an die Reihe kamen, ließ er sich bei der Wahl zwischen drei annehmbaren Höschen durch das Gedränge in seinem Rücken keineswegs aus der Ruhe bringen. Der Verkäufer hatte bereits mehrmals von einem Bein auf das andere gewechselt, als mein Sohn sich endlich entschied: „Diese!“

Eine schwarze Manchesterhose. Natürlich musste die Hose gleich angezogen werden und auch das neue blaue Hemd. „Eigentlich gehört auch ein Gürtel dazu“, sagte der Verkäufer taktvoll. Es dauerte nicht lange, da war ich jener lederner Korsetts erlegen, die Pfadfinder und Waldläufer zusammenhalten.

„So. jetzt bist du ein großer Junge“, sagte ich, als er völlig erneuert neben mir herging. An seinem Gang konnte man sehen, dass er mir Recht gab. Er bewegte sich anders als soeben – gleichgültiger, eckiger und großschrittiger.

„Papa“, sagte er auf ein mal. „Ich will den Luftballon nicht mehr haben.“

„Warum denn nicht?“, fragte ich erstaunt. „Du hast ihn doch eben noch so schön gefunden.“

Unschlüssig betrachtete er das heiter tanzende Spielzeug.

„Kinderei …“, sprach er alsdann. „Nichts für große Jungen.“

Und er zog die Hose hoch, die dauernd dem neuen Gürtel entgleiten wollte.

„Wollen wir ihn fliegen lassen?“, fragte ich.

Er nickte.

So geschah es, dass ein kleiner Junge seinen Ballon dem Winde preisgab, ohne über den Verlust zu weinen. Wohl blickte er ihm lange nach. Es waren seine Kleinkinderjahre, die davonflogen – höher und höher, bis man nichts mehr sah.

 

Aufgaben

Arbeit am Wortschatz

1. Das Verb aufbrechen bildet das Perfekt sowohl mit haben als auch mit sein. Setzen Sie in

folgende Sätze das entsprechende Hilfsverb ein, erläutern Sie die Bedeutung des Verbs in den

Sätzen: Wir … in der Dämmerung aufgebrochen. Man … die Tür aufgebrochen. Die Bauern

… das Land aufgebrochen. Die Knospen … aufgebrochen.

2. Beachten Sie, dass das Verb preisgeben eigentlich nichts mit dem Preis zu tun hat, seine

Bedeutungen sind: jemandem etwas aufgeben, jemanden verraten, etwas seinem Schicksal

Überlassen, auf etwas verzichten. In welcher Bedeutung ist es in folgenden Sätzen gebraucht?

Sie hat seinen Namen der Öffentlichkeit preisgegeben. Ohne Mantel war er dem Unwetter

preisgegeben. Sie gibt das Recht auf ihr Erbteil preis. Ein kleiner Junge gab seinen Ballon dem

Winde preis.

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes

1. Was weist am Anfang des Textes auf das Kleinkinderalter hin?

2. Welche Färbung erhält der Text durch die Abfolge der Sätze: Hast du dieses Hündchen

gesehen und Dieser Herr lacht so Hohoho. Und wie ist die Bewegung des Erzählers, wenn es

heißt, die Unterhaltung war leicht und festlich?

3. Welche Epitheta charakterisieren in der Geschichte den Gang eines Mannes?

4. Benennen Sie die Stimmung des Erzählers, die in den letzten Zeilen des Textes zu spüren ist?

 

Zusätzliche Aufgaben

1. Was ist eine Manchesterhose?

2. Was sind Pfadfinder und Waldläufer?

3. Was ist ein Korsett?

Martie Verdenius