Stoßseufzer einer Mutter

 

Es gibt Dinge, die ich bis heute der Besitzgier meiner Kinder hartnäckig vorenthalte. Das sind mein Fahrrad, mein Auto und meine Schreibmaschine. Und sie wissen, dass ich in diesem Punkt hart wie Beton bin, einfach aus purem Selbsterhaltungstrieb. Weil das Radio, das sie abwechselnd oder gleichgültig bedienen, es „auf einmal nicht mehr tut“, wie ihr Fachausdruck dafür lautet. Weil ihre Fahrräder mit gelockerten Schutzblechen einen Kilometer gegen den Wind zu hören sind. Weil – und das betrifft vornehmlich meinen jüngsten Sohn – er bei meinem Auto, von einer starken inneren Kraft getrieben, an allen Knöpfen drehen will, um zu sehen, was dann passiert. Von Zeit zu Zeit greifen meine Kinder dieses Thema wieder einmal auf, und ihre Kritik an mir ist gallenbitter. „Du gönnst uns nichts, Mutti“, sagen sie dann, nicht einmal mehr tadelnd, sondern nur als sachliche Feststellung. Ich komme immer wider mit der gleichen abgedroschenen Gegenwehr: „Bis ich ein altes verrunzeltes Weiblein bin, habt ihr alle diese Dinge längst selber. Lasst sie mir wenigstens jetzt noch.“

Sie fallen nicht auf dies „alte runzlige Weiblein“ herein. „Unsinn, du gönnst es uns nur nicht!“ Aus.

In Kürze erreiche ich eine neue Phase.

„Weißt du eigentlich, dass mir deine Schuhe schon fast passen?“, fragte meine Tochter heute Morgen. „Schön, nicht?“ „Ja, ja, schön“, antwortete ich unbeteiligt, weil ich mich schon ein Kielwasser einer Freundin mit einer etwa älteren Tochter treiben sehe, die mir sehr plastisch eine Vorschau vermittelte.

„Mutti, du musst jetzt mal ganz nett sein. Darf ich, bitte, heute zum Tanzen deine Lackpumps ausborgen? Ja? Ach bitte, nur dies eine Mal. Ich gebe bestimmt gut Acht auf sie!“

Am nächsten Morgen:

„Mutti, ich habe deine Schuhe sauber geputzt und sie sofort wider weggeräumt. Und noch vielen Dank, übrigens!“

Die Woche darauf:

„ Mutti, ich habe deine Schuhe geputzt, aber ich habe keine Zeit mehr, sie wegzuräumen Könntest du das bitte selber machen?“

Im nächsten Monat:

„Mutti, ich ziehe deine Schuhe an, o. k.? Tschüss.“

Am nächsten Tag des nächsten Monats:

„Mutti, deine Schuhe stehen bei mir, falls du sie brauchen solltest!“

Nach einem halben Jahr:

„Mutti, hast du etwa die Schuhe selber an? Ich suche schon wie wahnsinnig danach! Warum sagst du es denn nicht wenigstens? Ich brauche sie unbedingt heute Abend.“

Nach einem halben Jahr und einem Tag:

„Mutti, du musst neue Lackpumps kaufen! Diese hier haben schon so viele Risse. Das kommt davon, weil du sie immer anziehst. Bitte, lass das doch in Zukunft bleiben.“ Und so fragte ich mich bekümmert: Was hilft uns da der schöne Muttertag? Wann wird endlich ein Elternschutzgesetz erlassen?

 

Aufgaben

Aufgaben am Wortschatz

1. Vergleichen Sie die Bedeutung des Adverbs vornehmlich und des Adjektivs vornehm:

a) Das betrifft vornehmlich meinen jüngsten Sohn. b) Diese Farbenkombination wirkt sehr

vornehm. c) Sie waren vornehme Menschen.

2. Das Verb gönnen hat einige Bedeutungen: a) jemandem etwas wohlwollend zugestehen;

b) erlauben. In welcher Bedeutung ist es im folgenden Satz verwendet: Du gönnst uns nichts.

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gestaltung des Textes

1. In welche Abschnitte kann die Geschichte gegliedert werden?

2. Wie ist der Ton der Geschichte?

3. Zu dem humoristischen Ton tragen inhaltliche Momente und sprachliche Mittel bei.

Betrachten Sie in dieser Hinsicht einige Beispiele:

a) Über das Radio; Es tut auf einmal nicht mehr. b) Ihre Fahrräder mit gelockerten

Schutzblechen sind einige Kilometer gegen den Wind zu hören.

4. Welchen Fachsprachen sind folgende Wörter entnommen: a) die Gegenwehr b) der

Selbsterhaltungstrieb c) das Kielwasser d) die Vorschau e) das Schutzgesetz

5. Wie ändert sich der Ton der Tochter bei den Gesprächen mit der Mutter über die Schuhe der

Mutter?

 

Zusätzliche Aufgaben

1. Welchem schon vorhandenen Gesetz soll das vorgeschlagene Elterschutzgesetz

gegenübergestellt werden? Brauchen Ihre Eltern solch ein Gesetz?

2. Zu welcher grammatischen Wortart gehört tschüss?

3. Wann ist Muttertag?

 

Helga. M. Novak

Schlittenfahren

 

Das Eigenheim steht in einem Garten. Der Garten ist groß. Durch den Garten fließt ein Bach. Im Garten stehen zwei Kinder. Das eine der Kinder kann noch nicht sprechen. Das andere Kind ist größer. Sie sitzen auf einem Schlitten. Das kleinere Kind weint. Das größere sagt, gib den Schlitten her. Das kleinere weint. Es schreit.

Aus dem Haus tritt ein Mann. Er sagt, wer brüllt, komm rein. Er geht in das Haus zurück. Die Tür fällt hinter ihm zu.

Das kleinere Kind schreit.

Der Mann erscheint wider in der Haustür. Er sagt, komm rein. Na, wird` bald. Du kommst rein. Nix. Wer brüllt, kommt rein.

Kommt rein.

Der Mann geht hinein. Die Tür klappt.

Das kleinere Kind hält die Schnur des Schlittens fest. Er schluchzt.

Der Mann öffnet die Haustür. Er sagt, du darf ist Schlitten fahren, aber nicht brüllen.

Wer brüllt, kommt rein. Ja. Ja. Jaaa. Schluss jetzt.

Das größere Kind sagt, Andreas will immer allein fahren.

Der Mann sagt, wer brüllt, kommt rein. Ob er nun Andreas heißt oder sonst wie.

Er macht die Tür zu.

Das größere Kind nimmt dem kleineren den Schlitten weg. Das kleinere Kind schluchzt, quietscht, jault, quergelt.

Der Mann tritt aus dem Haus. Das größere Kind gibt dem kleineren den Schlitten zurück. Das kleinere Kind setzt sich auf den Schlitten. Er rodelt.

Der Mann sieht in den Himmel. Der Himmel ist blau. Die Sonne ist groß und rot. Es ist kalt.

Der Mann pfeift laut. Er geht wieder ins haus zurück. Er macht die Tür hinter sich zu.

Das größere Kind ruft, Vati, Vati, Vati, Andreas gibt den Schlitten nicht mehr her.

Die Haustür geht auf. Der Mann steckt den Kopf heraus. Er sagt, wer brüllt, kommt rein. Die Tür geht zu.

Das größere Kind ruft, Vati, Vativativati, Vaaatiii, jetzt ist Andreas in den Bach gefallen.

Die Haustür öffnet sich einen Spalt breit. Eine Männerstimme ruft, wie oft soll ich das noch sagen, wer brüllt, kommt rein.

 

Aufgaben

Arbeit am Wortschatz

1. Die Verben 1) rufen, 2) schreien, 3) brüllen sind synonym. Setzen Sie das entsprechende Verb

und die entsprechende Präposition ein: 1) Das hungrige Vieh … … Futter.

2) Das Kind … laut … Angst.

2. Was ist der Unterschied zwischen weinen und schluchzen?

3. Was vereint die Verben quergeln und jaulen?

4. Die Grundbedeutung des Verbs quietschen ist hohe, schrille Laute ausstoßen, verursachen:

Das Kind quietscht vor Vergnügen. Die Mädchen quietschen vor Freude. Die Säge quietscht.

In den Schuhen quietscht das Wasser. Das Auto hält mit quietschenden Bremsen.

 

Aufgaben zum Inhalt und zur sprachlichen Gliederung des Textes

1. Geben Sie kurzgefasst den Inhalt der Geschichte wider.

2. Warum wird das erste Substantiv – das Eigenheim – mit einem bestimmten Artikel

eingeleitet?

3. Warum wird der Vater der Kinder immer wieder Mann genannt?

4. Untersuchen Sie die Komposition des Textes: die Funktion des einleitenden Absatzes.

5. Wie wird die Handlungszeit angedeutet?

6. Worin könnte die Ursache des Kinderkonfliktes bestehen?

7. Wie würden Sie den Hauptteil betiteln? Wie entfaltet sich sein Inhalt?

8. Hat der text einen Ausstieg?

9. Analysieren Sie die syntaktische Struktur des Textes: die vorwiegend gebrauchten Satztypen

und ihre Wortfolge. Was bezweckt die Autorin damit?

10. Schreiben Sie die Verben heraus, die den lautlichen Hintergrund der Seele schaffen.

11. Verwandeln Sie diesen Prosatext in einen dramatischen. Welche Textteile schaffen das

Bühnenbild, welche Sätze sind Bühnenanweisungen in Bezug auf das Verhalten und die

Sprechweise der Personen, welche Sätze gehören zur Figurenrede?

 

Zusätzliche Aufgaben

1. Die Substantive Haus und Heim sind teilweise synonym.

Bestimmen Sie ihren semantischen Unterschied.

2. Erläutern Sie die Bedeutung der Wörter: das Eigenheim, das Mietshaus, das Reihenhaus.

 

Horst Binger