DEMOGRAPHISCHE SITUATION IN DEUTSCHLAND

A. Demographische Situation in Deutschland

Fast 5,5 Millionen Einwohner hat Deutschland in den letzten 30 Jahren verloren - fast ebenso viele wie zwischen 1815 und 1914 nach Nordamerika ausgewandert sind. Denn seit 1972 sterben hierzulande mehr Menschen, als geboren werden - jede nachfolgende Kindergeneration ist um ein Dritte/ kleiner als die ihrer Eltern. Mit im Schnitt nur noch knapp 1,4 Kindern pro Frau zählt die Bundesrepublik beute zu den kinderärmsten Gesellschaften der Welt. Wenngleich die Einwohnerzahl bundesweit um 3,8 Prozent zugenommen hat, ist sie in knapp einem Drittel aller Kreise gesunken. Viele davon liegen im Osten, aber auch in sterbenden Industrieregionen des Westens.

Deutschland—tln Einwanderungsland

Dieser tief greifende Schrumpfungsprozess wurde lange kaum wahrgenommen, weil sich Deutschland im selben Zeitraum — faktisch und entgegen den politischen Debatten — zum Einwanderungsland gewandelt hat Mittlerweile leben hier mehr als zwölf Millionen Menschen, die nicht in Deutschland geboren wurden oder nicht die deutsche Nationalität besitzen: Das ist die weltweit zweitgrößte zugewanderte Bevölkerung nach jener in den USA. Allein deshalb ist Deutschland bislang nicht leerer geworden.

Niedrigste Geburtenrate in den neuen Bundesländern

Diese Rechnung gilt allerdings nur ftlr den Westen Deutschlands. Im Osten, wo sich die Machthaber fange, aber vergeblich mit Mauer und Stacheldraht gegen Bevölkerungsverluste gewehrt haben, brach nach der Wende, quasi Ober Nacht, die durchschnittliche Kinderzahl je Frau von 1,6 auf 0,77 ein - der niedrigste je gemessene Wert weltweit Der Strukturwandel tilgte überkommene Industriereviere von der Landkarte, und vor allem junge und qualifizierte Menschen folgten dem Wirtschaftsgefälle - nach Westen. Alte und sozial Schwache blieben zurück.

Halbierte Bevölkerung bis 2050?

In kürzester Zeit kam es zu einer regelrechten Bevölkerungsimplosion: Wo Busse und Bahnen den Betrieb einstellen, Postämter und Schulen dichtmachen und von der ökonomischen Infrastruktur nur der Zigarettenautomat bleibt, ziehen auch keine jungen Familien mehr hin. Seit Gründung der DDR hat Ostdeutschland ein Viertel der Bevölkerung verloren. Bis 2050, so die Prognosen, könnte es noch einmal die Hälfte der jetzigen Bewohnerschaft sein.

Schrumpjungt- und Wachstumstonen

Die neuen Lander haben damit im Zeitraffer erlebt, was auf andere Gebiete Deutschlands erst noch zukommt. Insgesamt wird sich die Bundesrepublik zunehmend teilen in Regionen der Schrumpfung und des Wachstums. Dabei

ziehen die Menschen einerseits vom Land in jene Ballungsräume, die eine wirtschaftliche Perspektive bieten; andererseits aus den Urbanen Zentren in deren immer breiter werdende Grüngürtel, die mehr Lebensqualität versprechen. Aber selbst dort fehlen die Kinder. Die Republik wird, zuerst in den Schwundregionen, bald jedoch bundesweit, zu einem Land der Alten.

Die Deutschen vergreisen

Das Gebilde, das die Demographen einst eine Bevölkerungspyramide nannten, ist langst ein ausgefranster Pilz. Unten wachst wenig nach, und weiter oben sterben die Menschen sehr viel später. Die Lebenserwartung ist im letzten Jahrhundert um gut dreißig Jahre gestiegen. Während der Bevölkerungsanteil

der unter 20-Jährigen von 1991 bis 2020 weiter von 21,7 auf 17,4 zurückgehen soll, dürfte sich jener der über 60-Jährigen von 20,4 auf 28,6 Prozent vergrößern. Dramatisch verschärfen wird sich dieser Oberhang älterer Menschen nach 2020, wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre ins Rentenalter kommen.

Internationales Phänomen

Hinzu kommt, dass sich der demographische Wandel international vollzieht -und dabei höchst gegensätzlich. Die Bevölkerung der 25 EU-Länder wird zwischen 2000 und 2050 voraussichtlich um 50 Millionen, etwa elf Prozent, abnehmen. Im selben Zeitraum dürfte sich die Einwohnerzahl der 25 Länder in direkter und indirekter Nachbarschaft der EU mehr als verdoppeln. «Die kommenden Jahrzehnte», so Paul Hewitt, früher Direktor der Initiative «Global Aging» am «Centre for Strategie and International Studies» in Washington, werden «eine massive Migrationsbewegung aus diesen verarmten Regionen in ein sich entvölkerndes Europa erleben, dessen Wohlfahrtsstaaten nicht darauf eingerichtet sind, die Einkommensungleichheit abzufangen, die das mit sich bringt»

Bevölkerungsschwund senkt die Kreditwürdigkeit

Die Krise der staatlichen Finanzhaushalte wird durch den demographischen Wandel massiv verschärft Was dies bedeuten kann, zeigt das Beispiel von Sachsen-Anhalt Im September 2003 wurde die Kreditwürdigkeit dieses Bundeslandes von der maßgeblichen Rating-Agentur Standard & Poor's herabgestuft - und zwar erstmals explizit auch aus demographischen Gründen. Der Bevölkerungsrückgang, hieß es, habe negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum.

Immer mehr Pflegebedürftige

Weniger Menschen bedeuten — ebenso wie mehr altere Menschen - euch weniger Steuer- und Beitragszahlungen. Die Infrastruktur an die Bedürfnisse einer alternden Bevölkerung anzupassen« kostet mehr, als sich im Bildungswesen durch den Nachwuchsschwund einsparen lässt. Wo mangels Kindem die soziale Funktion der Familien geschwächt wird, muss zunehmend der Staat einspringen. So wird sich der Anteil der Pflegebedürftigen, die von Verwandten versorgt werden, bis 2020 von derzeit 70 auf 35 Prozent halbieren.

Arbeitslosigkeit: Das Potenzial der Allan nutzen!

Wie eine internationale Studie belegt, stellt die Gruppe der 25- bis 44-Jährigen die aktivsten Unternehmensgründer. Bereits im Jahr 2015 wird jedoch jede dritte Erwerbsperson Ober 50 sein. «Natürlich steckt auch in den Alten Potenzial, aber Weisheit hilft wenig, wo Innovation nötig wäre», sagt Ralf Ulrich, Bevölkerungswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. Bisher ist dieses Potenzial wenig gefragt: Fast 60 Prozent aller Betriebe beschäftigen keine Mitarbeiter über 50; und während deren Anteil an den Arbeitslosen Ober 30 Prozent beträgt, liegt er bei staatlichen Fördermaßnahmen zur beruflichen Weiterbildung nur bei 7,5 Prozent Vom «lebenslangen Lernen» ist diese Altersgruppe also noch weit entfernt — obwohl gerade auf sie steigende Anforderungen zukommen.

Umfragen widersprechen den rückläufigen Zahlen Umfragen zeigen, dass die Deutschen keine schwindende Nation sein wollen. Dass der hohe Wert der Familie ungebrochen ist Dass sich 74 Prozent aller Kinderlosen Kinder wünschen - am liebsten zwei. Warum viele diesen Wunsch nicht verwirklichen, ist allerdings unzureichend erforscht Welchen Einfluss haben lange Ausbildungszeiten, Individualisierung, Beruf oder die Qualität der Partnerschaft auf die Kindeseltern? Welche Rolle spielt dabei eine Gesellschaft, in der Kinder keine Selbstverständlichkeit mehr sind?

Auf dem Weg In eine kinderlose Gesellschaft?

In der aktuellen Debatte spielen Kinder vor allem als ökonomischer Faktor eine Rolle - als finanzielle Belastung für Familien, als zukünftige Rentenzahler, aber nicht als Bereicherung unseres Lebens. Die Zukunft könnte noch weniger kinderfreundlich aussehen: Wenn die Alten die Wählermehrheit ausmachen -aber nur noch eine Minderheit von ihnen Enkel hat Wie reformfreudig wird die Gesellschaft dann noch sein? Wie bereit, in den Nachwuchs zu investieren, statt in den Erhalt des Status quo?

Karriere und Kinder?

Politiker jeglicher Couleur haben sich angewöhnt, nach Kindergartenplätzen, Ganztagsschulen und der «Vereinbarkeit von Kindern und Berufstätigkeit für Frauen» zu rufen. Die Statistik unterstützt sie dabei aber nicht: Wo das Angebot an Kindertagesstätten am größten ist - in den neuen Bundesländern -, liegen die Kinderzahlen am niedrigsten. Am höchsten sind sie in der niedersächsischen Region um Cloppenburg und Vechta- wo es wenige Hort-Plätze für die Kleinen gibt und die Frauen eher am Herd stehen. Das allerdings dürfte ein Modell der Vergangenheit nicht der Zukunft sein. Nicht zuletzt auch, weil Frauen in einer schrumpfenden Gesellschaft verstärkt als Erwerbstätige gebraucht werden.

Die aktuelle Zuwanderung reicht nicht aus

Es ist also ausgeschlossen, dass in Deutschland auf absehbare Zeit wieder genug Kinder nachwachsen, um den Bevölkerungsschwund auszugleichen. Die Lücke könnten nur, wie seit Ober 30 Jahren, Ausländer füllen. Da die Zuzügler im Schnitt weniger alt sind als die Ansässigen, hat das auch einen Verjüngungseffekt. Aber schon im kommenden Jahrzehnt reicht der derzeitige Zugewinn von jährlich rund 200 000 Einwanderern nicht mehr aus, um die Bevölkerung stabil zu halten. Die Einwanderungszahlen müssten noch weiter steigen: auf300 000 im Jahr 2020, auf mehr als eine halbe Million im Jahr 2050.

Arbeitslosigkeit unter Zuwanderern nimmt zu

Dabei wäre es allein mit der schieren Menge nicht getan. Zuwanderer tragen seit Ende der 1980er Jahre nicht mehr zur Sanierung der Sozialkassen bei, sondern belasten sie. Denn der Anteil der Erwerbstätigen unter den Ausländern ist deutlich gesunken. Die Arbeitslosigkeit unter Ausländern ist doppelt so hoch wie unter Deutschen. Durchbrochen wird dieses Muster nur von hoch qualifizierten Migranten, die weh mehr leisten als der Durchschnitt der Einheimischen.

Wettbewerb um hoch qualifizierte Einwanderer

Die Zuwanderung muss also gesteuert werden und sich auf junge, gut ausgebildete Ausländer konzentrieren. Aber auch das hat Schattenseiten: Zum einen verlieren die Abwanderungsländer Fachkräfte, die sie für einen wirtschaftlichen Aufholungsprozess dringend brauchen. Zum anderen wird es bald unter den hoch entwickelten Industrienationen einen Wettbewerb um attraktive Einwanderer geben - denn mit wenigen Ausnahmen schrumpfen sie alle.

Die «Green Card» ist gescheitert

Und Deutschland droht dabei schlecht abzuschneiden. So ist der seit 2000 laufende Versuch, mit einer «Green Card» Computerexperten ins Land zu locken, wettgehend gescheitert: Die auf fünf Jahre befristete Arbeitserlaubnis ist wenig attraktiv für hoch Qualifizierte, die sich eine dauerhafte Existenz aufbauen wollen. Anders als etwa in den USA, mangelt es ihnen hierzulande an Planungssicherheit - und einem Klima der Akzeptanz. Denn Ober Jahrzehnte wurde versäumt, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass Deutschland Zuwendetet braucht. Versäumt wurde damit auch, diejenigen nach Krallen zu integrieren, die in den letzten Jahrzehnten gekommen sind.

Stockende Integration

Das Hineinwachsen in die deutsche Gesellschaft ergibt sich nicht von selbst Junge Migranten der dritten Generation sprechen häufig schlechter Deutsch ab jene der zweiten; sie sind in noch stärkerem Maße arbeitslos und seltener bereit, sich so abzumühen wie ihre Eltern. Aufgewachsen in Deutschland, steilen sie aber Ansprüche wie Einheimische, werden zwangsläufig enttäuscht und sind noch schwerer zu integrieren.

Migranten unter sich

Statt den Aufstiegsmustern des neuen Heimatlandes zu folgen, setzten viele noch immer eher auf eine Einkommens-, statt auf eine Bildungskarriere, so eine These der Leipziger Soziologin Heike Diefenbach. Im Streben nach schnellem finanziellen Erfolg verglichen sie sich vor aJlei» mit Angehörigen der eigenen Migranten-Gruppe — und dies umso starker, wenn sie in Stadtvierteln und Schulen unter sich blieben. Eine Problematik, die sich dort noch zu verschärfen droht, wo -wie in den Städten des Ruhrgebiets - bereits im nächsten Jahrzehnt die Mehrheit aller Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben wird.

Zerfallen wir In zwei Parallelgesellschaften?

Nur wenn ihre Einbindung in die Gesellschaft gelingt, kann der Zerfall in Parallelgesellschaften verhindert werden und — ähnlich wie in den USA - eine die Minderheiten übergreifende Identität entstehen: als «Deutscher türkischer Herkunft», als «deutsche Kroatin».

Abschied vom Wachstumsdenken Wir müssen Abschied nehmen vom Wachstumsdenken der Vergangenheit Immer länger leben, dabei immer weniger arbeiten und immer reicher werden -das hat bestenfalls für kurze Zeit von den 1970er bis 1990er Jahren funktioniert. Die Alte Welt muss sich neu erfinden, um zukunftstauglich zu sein. Dabei könnte der Pioniergeist der Auswanderer im 19. Jahrhundert Vorbild sein, ihre Bereitschaft, sich von Grund auf neuen Herausforderungen zu stellen.