Die Amrei, ein Theaterbesuch und wieder Ohrfeigen

Vor zwei Monaten, ungefähr, erzählte mir die Ilse, dass sie sich jetzt wieder mit der Amrei trifft. Die sei doch viel netter, als alle blöden Kühe1 in ihrer Klasse! Die Amrei war früher einmal die Freundin von der Ilse gewesen. Als die Ilse noch in der Volksschule war. Jetzt geht sie in eine Klosterschule2. Die Ilse erzählte mir, dass sie die Amrei auf der Straße ge­troffen habe. Sie seien in ein Cafe gegangen und hätten ein Va­nille-Eis gegessen. Und da habe die Ilse bemerkt, dass sie diе Amrei noch immer so gut wie früher leiden kann. Dauernd hat mir die Ilse von der Amrei erzählt. Wie sie mit ihr im Kino war! Und im Espresso! Und spazieren! Und im Schwimmbad!

Und dann, das ist jetzt drei Wochen her, war der große Krach bei uns zu Hause.

Es war an einem Samstag, die Ilse sagte, sie geht mit der Schule ins Theater. Und um zehn wird sie zurück sein. Die Mama bot ihr an, sie mit dem Auto vom Theater abzuho­len. Die Ilse meinte, das sei nicht nötig. Der Vater von der Evi nimmt sie mit und bringt sie nach Hause.

Die Ilse kam nicht um zehn, es wurde halb elf und dann elf, und die Ilse war noch immer nicht zu Hause. Die Mama rief bei den Eltern von der Evi an. Die Mutter von der Evi sagte, sie wisse nichts von einem Theaterbesuch, und die Evi liege längst im Bett und schlafe.

Die Mama und der Kurt setzten sich ins Wohnzimmer. Sie sprachen kaum miteinander. Bloß alle zehn Minuten teilten sie sich gegenseitig die Uhrzeit mit. Ich lag in meinem Bett. Ich versuchte wach zu bleiben, doch dann schlief ich ein.

Als ich wieder munter wurde, hörte ich aus dem Wohnzimmer die Stimme von der Ilse. Es war Viertel nach eins. Die Ilse erzählte, wie schön es im Theater gewesen sei und dass der Vater von der Evi alle Mädchen nach dem Theater in ein feines Restaurant eingeladen habe.

„Sehr lieb von ihm“ sagte die Mama.

Und die Ilse erzählte, was sie gegessen hatte und was die Evi und die Herta und die anderen gegessen hatten.

„Aha“ und „Soso“, sagte die Mama.

Ich war ziemlich verschlafen, aber trotzdem merkte ich, dass es immer schlimmer werden würde, wenn die Ilse so weiter log. Ich gab mir einen Ruck und tapste ins Wohnzimmer.

“Erika, geh sofort ins Bett“, rief die Mama.

Die Ilse sagte gerade: „Und dann waren leider keine Taxis zu finden!“ „Ein Jammer“, sagte die Mama höhnisch. Die Ilse merkte den Hohn nicht. Ich fand die Mama gemein.

Ich rief: „Ilse, die Mama hat mit den Eltern der Evi telefo­niert!“ Die Mama schaute mich böse an und rief: „Verschwin­de, aber sofort!“ Sie war wütend auf mich, weil ich ihr die Show gestohlen hatte. Ich bin aus dem Wohnzimmer gegangen. Doch hinter der Tür bin ich stehen geblieben. Ich wollte ja wissen, was weiter geschieht.

Die Ilse ließ sich nichts anmerken. Sie tat erstaunt. „Wieso? Der Vater von der Elfi hat uns abgeholt! Elfi, nicht Evi!“ Da sprang der Kurt auf und schrie, dass sie ihn nicht für dumm verkaufen soll! Die Ilse räusperte sich und sagte: „Kurt, das geht dich überhaupt nichts an. Dir bin ich keine Rechenschaft schuldig. Nur weil du meine Mutter geheiratet hast, brauchst du vor mir nicht den starken Mann zu spielen!“

Dann klatschte es. Die Mama hatte der Ilse heruntergehauen6. Und dann kam der Kurt aus dem Wohnzimmer gelaufen und rannte mich fast um.

„Kurt", rief die Mama. „Komm zurück! Sie muss sich bei dir entschuldigen!“

Aber der Kurt kam nicht zurück. Er ging ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Ich hörte noch, wie die Mama von der Ilse eine Entschuldigung verlangte und ihr alle möglichen und unmöglichen Strafen an­drohte, aber die Ilse entschuldigte sich nicht. Sie kam in die Diele und sagte zu mir: „Lieber beiße ich mir die Zunge ab!“

Sie weinte, als sie das sagte, und ballte die Hände zu Fäusten. Nachher waren die Abdrücke von den Fingernägeln auf den Handballen zu sehen.

In unserem Zimmer dann, während sich die Ilse auszog, mur­melte sie ununterbrochen: „Ich halte es nicht mehr aus, ich halte es nicht mehr aus.“

„Wo warst du denn wirklich?“ fragte ich. Ich fragte noch dreimal, bevor die Ilse endlich antwortete: „Ich war mit der Amrei in einer Bar!“

„Was macht man denn in einer Bar?“ fragte ich. „Dürfen da überhaupt zwei Mädchen allein hineingehen?“

Die Ilse löschte das Licht, legte sich ins Bett und sagte: „Gute Nacht!“ Ich wagte nicht, noch einmal zu fragen.

 

Erläuterungen:

blöde Kuh (Schimpfwort) — weibliche Person, über die man sich ärgert

die Klosterschule — Schule, die einem Kloster untersteht

das Espresso — kleines Lokal, in dem Kaffee (Espresso) serviert wird

der Jammer— Unglück, Pech, Mißgeschick

6j-m eine herunterhauen(salopp) — j-n ohrfeigen