Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit

Die Neger

25. März.

Auf meinem Tische stehen Blumen. Lieblich. Ein Geschenk meiner braven Hausfrau, denn heute ist mein Geburtstag.

Aber ich brauche den Tisch und rücke die Blumen beiseite und auch den Brief meiner alten Eltern. Meine Mutter schrieb: »Zu Deinem vierunddreißigsten Geburtstage wünsche ich Dir, mein liebes Kind, das Allerbeste. Gott, der Allmächtige, gebe Dir Gesundheit, Glück und Zufriedenheit!« Und mein Vater schrieb: »Zu Deinem vierunddreißigsten Geburtstage, mein lieber Sohn, wünsche ich Dir alles Gute. Gott, der Allmächtige, gebe Dir Glück, Zufriedenheit und Gesundheit!«

Glück kann man immer brauchen, denke ich mir, und gesund bist du auch, gottlob! Ich klopfe auf Holz. Aber zufrieden? Nein, zufrieden bin ich eigentlich nicht. Doch das ist ja schließlich niemand. Ich setze mich an den Tisch, entkorke eine rote Tinte, mach mir dabei die Finger tintig und ärgere mich darüber. Man sollt endlich mal eine Tinte erfinden, mit der man sich unmöglich tintig machen kann!

Nein, zufrieden bin ich wahrlich nicht.

Denk nicht so dumm, herrsch ich mich an. Du hast doch eine sichere Stellung mit Pensionsberechtigung, und das ist in der heutigen Zeit, wo niemand weiß, ob sich morgen die Erde noch drehen wird, allerhand! Wie viele würden sich sämtliche Finger ablecken, wenn sie an deiner Stelle wären?! Wie gering ist doch der Prozentsatz der Lehramtskandidaten, die wirklich Lehrer werden können! Danke Gott, daß du zum Lehrkörper eines Städtischen Gymnasiums gehörst und daß du also ohne große wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden darfst! Du kannst doch auch hundert Jahre alt werden, vielleicht wirst du sogar mal der älteste Einwohner des Vaterlandes! Dann kommst du an deinem Geburtstag in die Illustrierte, und darunter wird stehen: »Er ist noch bei regem Geiste.« Und das alles mit Pension! Bedenk und versündig dich nicht!

Ich versündige mich nicht und beginne zu arbeiten. Sechsundzwanzig blaue Hefte liegen neben mir, sechsundzwanzig Buben, so um das vierzehnte Jahr herum, hatten gestern in der Geographiestunde einen Aufsatz zu schreiben, ich unterrichte nämlich Geschichte und Geographie.

Draußen scheint noch die Sonne, fein muß es sein im Park! Doch Beruf ist Pflicht, ich korrigiere die Hefte und schreibe in mein Büchlein hinein, wer etwas taugt oder nicht.

Das von der Aufsichtsbehörde vorgeschriebene Thema der Aufsätze lautet: »Warum müssen wir Kolonien haben?« Ja, warum? Nun, lasset uns hören!

Der erste Schüler beginnt mit einem B: er heißt Bauer, mit dem Vornamen Franz. In dieser Klasse gibt's keinen, der mit A beginnt, dafür haben wir aber gleich fünf mit B. Eine Seltenheit, so viele B's bei insgesamt sechsundzwanzig Schülern! Aber zwei B's sind Zwillinge, daher das Ungewöhnliche. Automatisch überfliege ich die Namensliste in meinem Büchlein und stelle fest, daß B nur von S fast erreicht wird – stimmt, vier beginnen mit S, drei mit M, je zwei mit E, G, L und R, je einer mit F, H, N, T, W, Z, während keiner der Buben mit A, C, D, I, O, P, Q, U, V, X, Y beginnt. Nun, Franz Bauer, warum brauchen wir Kolonien?

»Wir brauchen die Kolonien«, schreibt er, »weil wir zahlreiche Rohstoffe benötigen, denn ohne Rohstoffe könnten wir unsere hochstehende Industrie nicht ihrem innersten Wesen und Werte nach beschäftigen, was zur unleidlichen Folge hätte, daß der heimische Arbeitsmann wieder arbeitslos werden würde.« Sehr richtig, lieber Bauer! »Es dreht sich zwar nicht um die Arbeiter« – sondern, Bauer? –, »es dreht sich vielmehr um das Volksganze, denn auch der Arbeiter gehört letzten Endes zum Volk.«

Das ist ohne Zweifel letzten Endes eine großartige Entdeckung, geht es mir durch den Sinn, und plötzlich fällt es mir wieder auf, wie häufig in unserer Zeit uralte Weisheiten als erstmalig formulierte Schlagworte serviert werden. Oder war das immer schon so? Ich weiß es nicht.

Jetzt weiß ich nur, daß ich wieder mal sechsundzwanzig Aufsätze durchlesen muß, Aufsätze, die mit schiefen Voraussetzungen falsche Schlußfolgerungen ziehen. Wie schön wärs, wenn sich »schief« und »falsch« aufheben würden, aber sie tuns nicht. Sie wandeln Arm in Arm daher und singen hohle Phrasen. Ich werde mich hüten, als städtischer Beamter, an diesem lieblichen Gesange auch nur die leiseste Kritik zu üben! Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle? Er kann sich nur heimlich ärgern. Und ich will mich nicht mehr ärgern! Korrigier rasch, du willst noch ins Kino! Was schreibt denn da der N? »Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul.« – Zu dumm! Also das streich ich durch! Und ich will schon mit roter Tinte an den Rand schreiben:

»Sinnlose Verallgemeinerung!« – da stocke ich. Aufgepaßt, habe ich denn diesen Satz über die Neger in letzter Zeit nicht schon mal gehört? Wo denn nur? Richtig: er tönte aus dem Lautsprecher im Restaurant und verdarb mir fast den Appetit.

Ich lasse den Satz also stehen, denn was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen. Und während ich weiterlese, höre ich immer das Radio: es lispelt, es heult, es bellt, es girrt, es droht – und die Zeitungen drucken es nach, und die Kindlein, sie schreiben es ab.

Nun hab ich den Buchstaben T verlassen, und schon kommt Z. Wo bleibt W? Habe ich das Heft verlegt? Nein, der W war ja gestern krank – er hatte sich am Sonntag im Stadion eine Lungenentzündung geholt, stimmt, der Vater hats mir ja schriftlich korrekt mitgeteilt. Armer W! Warum gehst du auch ins Stadion, wenns eisig in Strömen regnet?

Diese Frage könntest du eigentlich auch an dich selbst stellen, fällt es mir ein, denn du warst ja am Sonntag ebenfalls im Stadion und harrtest treu bis zum Schlußpfiff aus, obwohl der Fußball, den die beiden Mannschaften boten, keineswegs hochklassig war. Ja, das Spiel war sogar ausgesprochen langweilig – also: warum bliebst du? Und mit dir dreißigtausend zahlende Zuschauer?

Warum?

Wenn der Rechtsaußen den linken Half überspielt und zentert, wenn der Mittelstürmer den Ball in den leeren Raum vorlegt und der Tormann sich wirft, wenn der Halblinke seine Verteidigung entlastet und ein Flügelspiel forciert, wenn der Verteidiger auf der Torlinie rettet, wenn einer unfair rempelt oder eine ritterliche Geste macht, wenn der Schiedsrichter gut ist oder schwach, parteiisch oder parteilos, dann existiert für den Zuschauer nichts auf der Welt außer dem Fußball, ob die Sonne scheint, obs regnet oder schneit. Dann hat er alles vergessen.

Was »alles«?

Ich muß lächeln: die Neger, wahrscheinlich –

Es regnet

Als ich am nächsten Morgen in das Gymnasium kam und die Treppe zum Lehrerzimmer emporstieg, hörte ich auf dem zweiten Stock einen wüsten Lärm. Ich eilte empor und sah, daß fünf Jungen, und zwar E, G, R, H, T, einen verprügelten, nämlich den F.

»Was fällt euch denn ein?« schrie ich sie an. »Wenn ihr schon glaubt, noch raufen zu müssen wie die Volksschüler, dann rauft doch gefälligst einer gegen einen, aber fünf gegen einen, also das ist eine Feigheit!«

Sie sahen mich verständnislos an, auch der F, über den die fünf hergefallen waren. Sein Kragen war zerrissen. »Was hat er euch denn getan?« fragte ich weiter, doch die Helden wollten nicht recht heraus mit der Sprache und auch der Verprügelte nicht. Erst allmählich brachte ich es heraus, daß der F den fünfen nichts angetan hatte, sondern im Gegenteil: die fünf hatten ihm seine Buttersemmel gestohlen, nicht, um sie zu essen, sondern nur, damit er keine hat. Sie haben die Semmel durch das Fenster auf den Hof geschmissen.

Ich schaue hinab. Dort liegt sie auf dem grauen Stein. Es regnet noch immer, und die Semmel leuchtet hell herauf.

Und ich denke: vielleicht haben die fünf keine Semmeln, und es ärgert sie, daß der F eine hatte. Doch nein, sie hatten alle ihre Semmeln, und der G sogar zwei. Und ich frage nochmals: »Warum habt ihr das also getan?« Sie wissen es selber nicht. Sie stehen vor mir und grinsen verlegen. Ja, der Mensch dürfte wohl böse sein, und das steht auch schon in der Bibel. Als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wieder wichen, sagte Gott: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde strafen um der Menschen willen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.«

Hat Gott sein Versprechen gehalten? Ich weiß es noch nicht. Aber ich frage nun nicht mehr, warum sie die Semmel auf den Hof geworfen haben. Ich erkundige mich nur, ob sie es noch nie gehört hätten, daß sich seit Urzeiten her, seit tausend und tausend Jahren, seit dem Beginn der menschlichen Gesittung, immer stärker und stärker ein ungeschriebenes Gesetz herausgebildet hat, ein männliches Gesetz: Wenn ihr schon rauft, dann raufe nur einer gegen einen! Bleibet immer ritterlich! Und ich wende mich wieder an die fünf und frage: »Schämt ihr euch denn nicht?«

Sie schämen sich nicht. Ich rede eine andere Sprache. Sie sehen mich groß an, nur der Verprügelte lächelt. Er lacht mich aus.

»Schließt das Fenster«, sage ich, »sonst regnets noch herein!«

Sie schließen es.

Was wird das für eine Generation? Eine harte oder nur eine rohe?

Ich sage kein Wort mehr und gehe ins Lehrerzimmer. Auf der Treppe bleibe ich stehen und lausche: ob sie wohl wieder raufen? Nein, es ist still. Sie wundern sich.

 

Die reichen Plebejer

Von 10-11 hatte ich Geographie. In dieser Stunde mußte ich die gestern korrigierte Schulaufgabe betreffs der kolonialen Frage drannehmen. Wie bereits erwähnt, hatte man gegen den Inhalt der Aufsätze vorschriftsgemäß nichts einzuwenden. Ich sprach also, während ich nun die Hefte an die Schüler verteilte, lediglich über Sprachgefühl, Orthographie und Formalitäten. So sagte ich dem einen B, er möge nicht immer über den linken Rand hinausschreiben, dem R, die Absätze müßten größer sein, dem Z, man schreibt Kolonien mit e und nicht Kolonihn mit h. Nur als ich dem N sein Heft zurückgab, konnte ich mich nicht zurückhalten: »Du schreibst«, sagte ich, »daß wir Weißen kulturell und zivilisatorisch über den Negern stehen, und das dürfte auch stimmen. Aber du darfst doch nicht schreiben, daß es auf die Neger nicht ankommt, ob sie nämlich leben könnten oder nicht. Auch die Neger sind doch Menschen.«

Er sah mich einen Augenblick starr an, und dann glitt ein unangenehmer Zug über sein Gesicht. Oder hatte ich mich getäuscht? Er nahm sein Heft mit der guten Note, verbeugte sich korrekt und nahm wieder Platz in seiner Bank. Bald sollte ich es erfahren, daß ich mich nicht getäuscht hatte.

Bereits am nächsten Tage erschien der Vater des N in meiner Sprechstunde, die ich wöchentlich einmal abhalten mußte, um mit den Eltern in Kontakt zu kommen. Sie erkundigten sich über die Fortschritte ihrer Kinder und holten sich Auskunft über allerhand meist recht belanglose Erziehungsprobleme. Es waren brave Bürger, Beamte, Offiziere, Kaufleute; Arbeiter war keiner darunter.

Bei manchem Vater hatte ich das Gefühl, daß er über den Inhalt der diversen Schulaufsätze seines Sprößlings ähnlich denkt wie ich. Aber wir sahen uns nur an, lächelten und sprachen über das Wetter. Die meisten Väter waren älter als ich, einer war sogar ein richtiger Greis. Der jüngste ist vor knapp zwei Wochen achtundzwanzig geworden. Er hatte mit siebzehn Jahren die Tochter eines Industriellen verführt, ein eleganter Mensch. Wenn er zu mir kommt, fährt er immer in seinem Sportwagen vor. Die Frau bleibt unten sitzen, und ich kann sie von droben sehen. Ihren Hut, ihre Arme, ihre Beine. Sonst nichts. Aber sie gefällt mir. Du könntest auch schon einen Sohn haben, denke ich dann, aber ich kann mich beherrschen, ein Kind in die Welt zu setzen. Nur damits in irgendeinem Krieg erschossen wird!

Nun stand der Vater des N vor mir. Er hatte einen selbstsicheren Gang und sah mir aufrecht in die Augen. »Ich bin der Vater des Otto N.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr N«, antwortete ich, verbeugte mich, wie es sich gehört, bot ihm Platz an, doch er setzte sich nicht. »Herr Lehrer«, begann er, »mein Hiersein hat den Grund in einer überaus ernsten Angelegenheit, die wohl noch schwerwiegende Folgen haben dürfte. Mein Sohn Otto teilte mir gestern nachmittag in heller Empörung mit, daß Sie, Herr Lehrer, eine schier unerhörte Bemerkung fallen gelassen hätten –« »Ich?«

»Jawohl, Sie!«

»Wann?«

»Anläßlich der gestrigen Geographiestunde. Die Schüler schrieben einen Aufsatz über Kolonialprobleme, und da sagten Sie zu meinem Otto: Auch die Neger sind Menschen. Sie wissen wohl, was ich meine?«

»Nein.«

Ich wußte es wirklich nicht. Er sah mich prüfend an. Gott, muß der dumm sein, dachte ich.

»Mein Hiersein«, begann er wieder langsam und betont, »hat seinen Grund in der Tatsache, daß ich seit frühester Jugend nach Gerechtigkeit strebe. Ich frage Sie also: ist jene ominöse Äußerung über die Neger Ihrerseits in dieser Form und in diesem Zusammenhang tatsächlich gefallen oder nicht?«

»Ja«, sagte ich und mußte lächeln: »Ihr Hiersein wäre also nicht umsonst –«

»Bedauere bitte«, unterbrach er mich schroff, »ich bin zu Scherzen nicht aufgelegt! Sie sind sich wohl noch nicht im klaren darüber, was eine derartige Äußerung über die Neger bedeutet?! Das ist Sabotage am Vaterland! Oh, mir machen Sie nichts vor! Ich weiß es nur zu gut, auf welch heimlichen Wegen und mit welch perfiden Schlichen das Gift ihrer Humanitätsduselei unschuldige Kinderseelen zu unterhöhlen trachtet!«

Nun wurds mir aber zu bunt! »Erlauben Sie«, brauste ich auf, »das steht doch bereits in der Bibel, daß alle Menschen Menschen sind!«

»Als die Bibel geschrieben wurde, gabs noch keine Kolonien in unserem Sinne«, dozierte felsenfest der Bäckermeister. »Eine Bibel muß man im übertragenen Sinn verstehen, bildlich oder gar nicht! Herr, glauben Sie denn, daß Adam und Eva leibhaftig gelebt haben oder nur bildlich?! Na also! Sie werden sich nicht auf den lieben Gott hinausreden, dafür werde ich sorgen!«

»Sie werden für gar nichts sorgen«, sagte ich und komplimentierte ihn hinaus. Es war ein Hinauswurf. »Bei Philippi sehen wir uns wieder!« rief er mir noch zu und verschwand.

Zwei Tage später stand ich bei Philippi.

Der Direktor hatte mich rufen lassen. »Hören Sie«, sagte er, »es kam hier ein Schreiben von der Aufsichtsbehörde. Ein gewisser Bäckermeister N hat sich über Sie beschwert, Sie sollen da so Äußerungen fallen gelassen haben. – Nun, ich kenne das und weiß, wie solche Beschwerden zustande kommen, mir müssen Sie nichts erklären! Doch, lieber Kollege, ist es meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß sich derlei nicht wiederholt. Sie vergessen das geheime Rundschreiben 5679 u/33! Wir müssen von der Jugend alles fernhalten, was nur in irgendeiner Weise ihre zukünftigen militärischen Fähigkeiten beeinträchtigen könnte – das heißt: wir müssen sie moralisch zum Krieg erziehen. Punkt!«

Ich sah den Direktor an, er lächelte und erriet meine Gedanken. Dann erhob er sich und ging hin und her. Er ist ein schöner alter Mann, dachte ich.

»Sie wundern sich«, sagte er plötzlich, »daß ich die Kriegsposaune blase, und Sie wundern sich mit Recht! Sie denken jetzt, siehe welch ein Mensch! Vor wenigen Jahren noch unterschrieb er flammende Friedensbotschaften, und heute? Heut rüstet er zur Schlacht!«

»Ich weiß es, daß Sie es nur gezwungen tun«, suchte ich ihn zu beruhigen.

Er horchte auf, blieb vor mir stehen und sah mich aufmerksam an. »Junger Mann«, sagte er ernst, »merken Sie sich eines: es gibt keinen Zwang. Ich könnte ja dem Zeitgeist widersprechen und mich von einem Herrn Bäckermeister einsperren lassen, ich könnte ja hier gehen, aber ich will nicht gehen, jawohl, ich will nicht! Denn ich möchte die Altersgrenze erreichen, um die volle Pension beziehen zu können.«

Das ist ja recht fein, dachte ich.

»Sie halten mich für einen Zyniker«, fuhr er fort und sah mich nun schon ganz väterlich an. »Oh, nein! Wir alle, die wir zu höheren Ufern der Menschheit strebten, haben eines vergessen: die Zeit! Die Zeit, in der wir leben. Lieber Kollege, wer so viel gesehen hat wie ich, der erfaßt allmählich das Wesen der Dinge.«

Du hast leicht reden, dachte ich wieder, du hast ja noch die schöne Vorkriegszeit miterlebt. Aber ich? Ich habe erst im letzten Kriegsjahr zum erstenmal geliebt und frage nicht, was.

»Wir leben in einer plebejischen Welt«, nickte er mir traurig zu. »Denken Sie nur an das alte Rom, 287 vor Christi Geburt. Der Kampf zwischen den Patriziern und Plebejern war noch nicht entschieden, aber die Plebejer hatten bereits wichtigste Staatsposten besetzt.«

»Erlauben Sie, Herr Direktor«, wagte ich einzuwenden, »soviel ich weiß, regieren bei uns doch keine armen Plebejer, sondern es regiert einzig und allein das Geld.« Er sah mich wieder groß an und lächelte versteckt. »Das stimmt. Aber ich werde Ihnen jetzt gleich ein Ungenügend in Geschichte geben, Herr Geschichtsprofessor! Sie vergessen ja ganz, daß es auch reiche Plebejer gab. Erinnern Sie sich?«

Ich erinnerte mich. Natürlich! Die reichen Plebejer verließen das Volk und bildeten mit den bereits etwas dekadenten Patriziern den neuen Amtsadel, die sogenannten Optimates.

»Vergessen Sies nur nicht wieder!«

»Nein.«

 

Das Brot

Als ich zur nächsten Stunde die Klasse, in der ich mir erlaubte, etwas über die Neger zu sagen, betrete, fühle ich sogleich, daß etwas nicht in Ordnung ist. Haben die Herren meinen Stuhl mit Tinte beschmiert? Nein. Warum schauen sie mich nur so schadenfroh an?

Da hebt einer die Hand. Was gibts? Er kommt zu mir, verbeugt sich leicht, überreicht mir einen Brief und setzt sich wieder.

Was soll das?

Ich erbreche den Brief, überfliege ihn, möchte hochfahren, beherrsche mich jedoch und tue, als würd ich ihn genau lesen. Ja, alle haben ihn unterschrieben, alle fünfundzwanzig, der W ist noch immer krank.

»Wir wünschen nicht mehr«, steht in dem Brief, »von Ihnen unterrichtet zu werden, denn nach dem Vorgefallenen haben wir Endesunterzeichneten kein Vertrauen mehr zu Ihnen und bitten um eine andere Lehrkraft.«

Ich blicke die Endesunterzeichneten an, einen nach dem anderen. Sie schweigen und sehen mich nicht an. Ich unterdrücke meine Erregung und frage wie so nebenbei: »Wer hat das geschrieben?«

Keiner meldet sich.

»So seid doch nicht so feig!«

Sie rühren sich nicht.

»Schön«, sage ich und erhebe mich, »es interessiert mich auch nicht mehr, wer das geschrieben hat, ihr habt euch ja alle unterzeichnet. – Gut, auch ich habe nicht die geringste Lust, eine Klasse zu unterrichten, die zu mir kein Vertrauen hat. Doch glaubt mir, ich wollte nach bestem Gewissen« – ich stocke, denn ich bemerke plötzlich, daß einer unter der Bank schreibt.

»Was schreibst du dort?«

Er will es verstecken.

»Gibs her!«

Ich nehm es ihm weg, und er lächelt höhnisch. Es ist ein Blatt Papier, auf dem er jedes meiner Worte mitstenographierte.

»Ach, ihr wollt mich bespitzeln?«

Sie grinsen.

Grinst nur, ich verachte euch. Hier hab ich, bei Gott, nichts mehr verloren. Soll sich ein anderer mit euch raufen!

Ich gehe zum Direktor, teile ihm das Vorgefallene mit und bitte um eine andere Klasse. Er lächelt: »Meinen Sie, die anderen sind besser?« Dann begleitet er mich in die Klasse zurück. Er tobt, er schreit, er beschimpft sie – ein herrlicher Schauspieler! Eine Frechheit wärs, brüllt er, eine Niedertracht, und die Lümmel hätten kein Recht, einen anderen Lehrer zu fordern, was ihnen einfiele, ob sie denn verrückt geworden seien, usw.! Dann läßt er mich wieder allein zurück.

Da sitzen sie nun vor mir. Sie hassen mich. Sie möchten mich ruinieren, meine Existenz und alles, nur weil sie es nicht vertragen können, daß ein Neger auch ein Mensch ist. Ihr seid keine Menschen, nein!

Aber wartet nur, Freunde! Ich werde mir wegen euch keine Disziplinarstrafe zuziehen, geschweige denn mein Brot verlieren – nichts zum Fressen soll ich haben, was? Keine Kleider, keine Schuhe? Kein Dach? Würd euch so passen! Nein, ich werde euch von nun ab nur mehr erzählen, daß es keine Menschen gibt, außer euch, ich will es euch so lange erzählen, bis euch die Neger rösten! Ihr wollt es ja nicht anders!

 

Die Pest

An diesem Abend wollt ich nicht schlafen gehen. Immer sah ich das Stenogramm vor mir – ja, sie wollen mich vernichten.

Wenn sie Indianer wären, würden sie mich an den Marterpfahl binden und skalpieren, und zwar mit dem besten Gewissen.

Sie sind überzeugt, sie hätten recht.

Es ist eine schreckliche Bande!

Oder versteh ich sie nicht? Bin ich denn mit meinen vierunddreißig Jahren bereits zu alt? Ist die Kluft zwischen uns tiefer als sonst zwischen Generationen?

Heut glaube ich, sie ist unüberbrückbar. Daß diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, war zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. Aber das Schlimmste ist, daß sie es überhaupt nicht kennenlernen wollen!

Alles Denken ist ihnen verhaßt.

Sie pfeifen auf den Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten. Wie gerne würden sie krepieren auf irgendeinem Feld! Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät.

Doch halt! Ist es nicht eine große Tugend, diese Bereitschaft zum höchsten Opfer?

Gewiß, wenn es um eine gerechte Sache geht –

Um was geht es hier?

»Recht ist, was der eigenen Sippschaft frommt«, sagt das Radio. Was uns nicht gut tut, ist Unrecht. Also ist alles erlaubt, Mord, Raub, Brandstiftung, Meineid – ja, es ist nicht nur erlaubt, sondern es gibt überhaupt keine Untaten, wenn sie im Interesse der Sippschaft begangen werden! Was ist das?

Der Standpunkt des Verbrechers.

Als die reichen Plebejer im alten Rom fürchteten, daß das Volk seine Forderung, die Steuern zu erleichtern, durchdrücken könnte, zogen sie sich in den Turm der Diktatur zurück. Und sie verurteilten den Patrizier Manlius Capitolinus, der mit seinem Vermögen plebejische Schuldner aus der Schuldhaft befreien wollte, als Hochverräter zum Tode und stürzten ihn dann vom Tarpejischen Felsen hinab. Seit es eine menschliche Gesellschaft gibt, kann sie aus Selbsterhaltungsgründen auf das Verbrechen nicht verzichten. Aber die Verbrechen wurden verschwiegen, vertuscht, man hat sich ihrer geschämt.

Heute ist man stolz auf sie.

Es ist eine Pest.

Wir sind alle verseucht, Freund und Feind. Unsere Seelen sind voller schwarzer Beulen, bald werden sie sterben. Dann leben wir weiter und sind doch tot.

Auch meine Seele ist schon schwach. Wenn ich in der Zeitung lese, daß einer von denen umgekommen ist, denke ich: »Zu wenig! Zu wenig!«

Habe ich nicht auch heute gedacht: »Geht alle drauf?« Nein, jetzt will ich nicht weiterdenken! Jetzt wasche ich meine Hände und gehe ins Café. Dort sitzt immer wer, mit dem man Schach spielen kann! Nur hinaus jetzt aus meinem Zimmer! Luft! –

Die Blumen, die ich von meiner Hausfrau zum Geburtstag bekam, sind verwelkt. Sie kommen auf den Mist. Morgen ist Sonntag.

In dem Café sitzt keiner, den ich kenne. Niemand.

Was tun?

Ich geh ins Kino.

In der Wochenschau seh ich die reichen Plebejer. Sie enthüllen ihre eigenen Denkmäler, machen die ersten Spatenstiche und nehmen die Paraden ihrer Leibgarden ab. Dann folgt ein Mäuslein, das die größten Katzen besiegt, und dann eine spannende Kriminalgeschichte, in der viel geschossen wird, damit das gute Prinzip triumphieren möge.

Als ich das Kino verlasse, ist es Nacht.

Aber ich gehe nicht nach Hause. Ich fürchte mich vor meinem Zimmer.

Drüben ist eine Bar, dort werd ich was trinken, wenn sie billig ist.

Sie ist nicht teuer.

Ich trete ein. Ein Fräulein will mir Gesellschaft leisten.

»So ganz allein?« fragt sie.

»Ja«, lächle ich, »leider –«

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Nein.«

Sie zieht sich gekränkt zurück. Ich wollt Ihnen nicht weh tun, Fräulein. Seien Sie mir nicht böse, aber ich bin allein.

Das Zeitalter der Fische

Als ich den sechsten Schnaps getrunken hatte, dachte ich, man müßte eine Waffe erfinden, mit der man jede Waffe um ihren Effekt bringen könnte, gewissermaßen also: das Gegenteil einer Waffe – ach, wenn ich nur ein Erfinder wäre, was würde ich nicht alles erfinden! Wie glücklich war die Welt!

Aber ich bin kein Erfinder, und was würde die Welt nicht alles versäumen, wenn ich ihr Licht nicht erblickt hätte? Was würde die Sonne dazu sagen? Und wer würde denn dann in meinem Zimmer wohnen?

Frag nicht so dumm, du bist betrunken! Du bist eben da. Was willst du denn noch, wo du es gar nicht wissen kannst, ob es dein Zimmer überhaupt geben würde, wenn du nicht geboren worden wärst? Vielleicht wär dann dein Bett noch ein Baum! Na also! Schäm dich, alter Esel, fragst mit metaphysischen Allüren wie ein Schulbub von anno dazumal, der seine Aufklärung in puncto Liebe noch nicht verdaut hat! Forsche nicht im Verborgenen, trink lieber deinen siebenten Schnaps! Ich trinke, ich trinke – Meine Damen und Herren, ich liebe den Frieden nicht! Ich wünsche uns allen den Tod! Aber keinen einfachen, sondern einen komplizierten man müßte die Folter wieder einführen, jawohl: die Folter! Man kann nicht genug Schuldgeständnisse erpressen, denn der Mensch ist schlecht!

Nach dem achten Schnaps nickte ich dem Pianisten freundlich zu, obwohl mir seine Musik bis zum sechsten Schnaps arg mißfiel. Ich bemerkte es gar nicht, daß ein Herr vor mir stand, der mich bereits zweimal angesprochen hatte. Erst beim drittenmal erblickte ich ihn.

Ich erkannte ihn sogleich.

Es war unser Julius Caesar.

Ursprünglich ein geachteter Kollege, ein Altphilologe vom Mädchenlyzeum, geriet er in eine böse Sache. Er ließ sich mit einer minderjährigen Schülerin ein und wurde eingesperrt. Man sah ihn lange nicht, dann hörte ich, er würde mit allerhand Schund hausieren, von Tür zu Tür. Er trug eine auffallend große Krawattennadel, einen Miniaturtotenkopf, in welchem eine winzige Glühbirne stak, die mit einer Batterie in seiner Tasche verbunden war. Drückte er auf einen Knopf, leuchteten die Augenhöhlen seines Totenkopfes rot auf. Das waren seine Scherze. Eine gestrandete Existenz.

Ich weiß nicht mehr, wieso es kam, daß er plötzlich neben mir saß und daß wir in eine hitzige Debatte verstrickt waren. Ja, ich war sehr betrunken und erinnere mich nur an einzelne Gesprächsfetzen –

Julius Caesar sagt: »Was Sie da herumreden, verehrter Kollega, ist lauter unausgegorenes Zeug! Höchste Zeit, daß Sie sich mal mit einem Menschen unterhalten, der nichts mehr zu erhoffen hat und der daher mit freiem Blick den Wandel der Generationen unbestechlich begreift! Also Sie, Kollega, und ich, das sind nach Adam Riese zwei Generationen, und die Lausbuben in Ihrer Klasse sind auch eine Generation, zusammen sind wir also nach Adam Riese drei Generationen. Ich bin sechzig, Sie zirka dreißig und jene Lauser zirka vierzehn. Paßt auf! Entscheidend für die Gesamthaltung eines ganzen Lebens sind die Erlebnisse der Pubertät, insbesondere beim männlichen Geschlecht.«

»Langweilens mich nicht«, sagte ich.

»Auch wenn ich Sie langweil, hörens mir zu, sonst werd ich wild! Also das oberste und einzigste Generalproblem der Pubertät meiner Generation war das Weib, das heißt: das Weib, das wir nicht bekamen. Denn damals war das noch nicht so. Infolgedessen war unser markantestes Erlebnis jener Tage die Selbstbefriedigung, samt allen ihren altmodischen Folgeerscheinungen, nämlich mit der, wie sichs leider erst später herausstellen sollte, völlig sinnlosen Angst vor gesundheitsschädigenden Konsequenzen etcetera. Mit anderen Worten: wir stolperten über das Weib und schlitterten in den Weltkrieg hinein. Anläßlich nun Ihrer Pubertät, Kollega, war der Krieg gerade im schönsten Gange. Es gab keine Männer, und die Weiber wurden williger. Ihr kamt gar nicht dazu, euch auf euch selbst zu besinnen, die unterernährte Damenwelt stürzte sich auf euer Frühlingserwachen. Für euere Generation war das Weib keine Heilige mehr, drum wird es euresgleichen auch nie restlos befriedigen, denn im tiefsten Winkel euerer Seelen sehnt ihr euch nach dem Reinen, Hehren, Unnahbaren – mit anderen Worten: nach der Selbstbefriedigung. In diesem Falle stolperten die Weiber über euch Jünglinge und schlitterten in die Vermännlichung hinein.«

»Kollega, Sie sind ein Erotomane.«

»Wieso?«

»Weil Sie die ganze Schöpfung aus einem geschlechtlichen Winkel heraus betrachten. Das ist zwar ein Kennzeichen Ihrer Generation, besonders in Ihrem Alter aber bleiben Sie doch nicht immer im Bett liegen! Stehen Sie auf, ziehen Sie den Vorhang zur Seite, lassen Sie Licht herein und blicken Sie mit mir hinaus!«

»Und was sehen wir draußen?«

»Nichts Schönes, jedoch trotzdem!«

»Mir scheint, Sie sind ein verkappter Romantiker! Ich bitt Sie, unterbrechens mich nicht mehr! Setz dich! Wir kommen jetzt zur dritten Generation, nämlich zu den heute Vierzehnjährigen: für die ist das Weib überhaupt kein Problem mehr, denn es gibt keine wahrhaften Frauen mehr, es gibt nur lernende, rudernde, gymnastiktreibende, marschierende Ungeheuer! Ist es Ihnen aufgefallen, daß die Weiber immer reizloser werden?« »Sie sind ein einseitiger Mensch!«

»Wer möchte sich für eine rucksacktragende Venus begeistern? Ich nicht! Jaja, das Unglück der heutigen Jugend ist, daß sie keine korrekte Pubertät mehr hat erotisch, politisch, moralisch etcetera, alles wurde vermantscht, verpantscht, alles in einen Topf! Und außerdem wurden zu viele Niederlagen als Siege gefeiert, zu oft wurden die innigsten Gefühle der Jugend in Anspruch genommen für irgendeinen Popanz, während sie es auf einer anderen Seite wieder zu bequem hat: sie müssen ja nur das abschreiben, was das Radio zusammenblödelt, und schon bekommen sie die besten Noten. Aber es gibt auch noch einzelne, Gott sei Dank!«

»Was für einzelne?«

Er sah sich ängstlich um, neigte sich dicht zu mir und sagte sehr leise: »Ich kenne eine Dame, deren Sohn geht ins Realgymnasium. Robert heißt er und ist fünfzehn Jahre alt. Neulich hat er so ein bestimmtes Buch gelesen, heimlich – nein, kein erotisches, sondern ein nihilistisches. Es hieß: ›Über die Würde des menschlichen Lebens‹ und ist streng verboten.«

Wir sahen uns an. Wir tranken.

»Sie glauben also, daß einzelne von denen heimlich lesen?«

»Ich weiß es. Bei jener Dame ist manchmal ein direktes Kränzchen, sie ist oft schon ganz außer sich. Die Buben lesen alles. Aber sie lesen nur, um spötteln zu können. Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn. Es kommen kalte Zeiten, das Zeitalter der Fische.«

»Der Fische?«

»Ich bin zwar nur ein Amateurastrolog, aber die Erde dreht sich in das Zeichen der Fische hinein. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches.« –

Das ist alles, was ich von der langen Debatte mit Julius Caesar behielt. Ich weiß nur noch, daß er, während ich sprach, öfters seinen Totenkopf illuminierte, um mich zu irritieren. Aber ich ließ mich nicht, obwohl ich sinnlos betrunken war. –

Dann erwache ich in einem fremden Zimmer. Ich lieg in einem anderen Bett. Es ist finster, und ich höre wen ruhig atmen. Es ist eine Frau – aha. Sie schläft. Bist du blond, schwarz, braun, rot? Ich erinnere mich nicht. Wie siehst du denn aus? Soll ich die Lampe andrehen? Nein. Schlaf nur zu.

Vorsichtig stehe ich auf und trete ans Fenster. Es ist noch Nacht. Ich sehe nichts. Keine Straße, kein Haus. Alles nur Nebel. Und der Schein einer fernen Laterne fällt auf den Nebel, und der Nebel sieht aus wie Wasser. Als wäre mein Fenster unter dem Meer. Ich schau nicht mehr hinaus.

Sonst schwimmen die Fische ans Fenster und schauen herein.

 

Der Tormann

Als ich morgens nach Hause kam, erwartete mich bereits meine Hausfrau. Sie war sehr aufgeregt. »Es ist ein Herr da«, sagte sie, »er wartet auf Sie schon seit zwanzig Minuten, ich hab ihn in den Salon gesetzt. Wo waren Sie denn?«

»Bei Bekannten. Sie wohnen auswärts, und ich habe den letzten Zug verpaßt, drum blieb ich gleich draußen über Nacht.«

Ich betrat den Salon. Dort stand ein kleiner, bescheidener Mann neben dem Piano. Er blätterte im Musikalbum, ich erkannte ihn nicht sogleich. Er hatte entzündete Augen. Übernächtig, ging es mir durch den Sinn. Oder hat er geweint? »Ich bin der Vater des W«, sagte er, »Herr Lehrer, Sie müssen mir helfen, es ist etwas Entsetzliches passiert! Mein Sohn wird sterben!«

»Was?!«

»Ja, er hat sich doch so furchtbar erkältet, heut vor acht Tagen beim Fußball im Stadion, und der Arzt meint, nur ein Wunder könne ihn retten, aber es gibt keine Wunder, Herr Lehrer. Die Mutter weiß es noch gar nicht, ich wagte es ihr noch nicht mitzuteilen – mein Sohn ist nur noch manchmal bei Besinnung, Herr Lehrer, sonst hat er immer nur seine Fieberphantasien, aber wenn er bei Besinnung ist, verlangt er immer so sehr, jemanden zu sehen –«

»Mich?«

»Nein, nicht Sie, Herr Lehrer, er möchte den Tormann sehen, den Fußballer, der am letzten Sonntag so gut gespielt haben soll, der ist sein ganzes Ideal! Und ich dachte, Sie wüßten es vielleicht, wo ich diesen Tormann auftreiben könnt, vielleicht wenn man ihn bittet, daß er kommt.«

»Ich weiß, wo er wohnt«, sagte ich, »und ich werde mit ihm sprechen. Gehen Sie nur nach Hause, ich bring den Tormann mit!«

Er ging.

Ich zog mich rasch um und ging auch. Zum Tormann. Er wohnt in meiner Nähe. Ich kenne sein Sportgeschäft, das seine Schwester führt.

Da es Sonntag war, war es geschlossen. Aber der Tormann wohnt im selben Haus, im dritten Stock.

Er frühstückte gerade. Das Zimmer war voller Trophäen. Er war sofort bereit, mitzukommen. Er ließ sogar sein Frühstück stehen und lief vor mir die Treppen hinab. Er nahm für uns beide ein Taxi und ließ mich nicht zahlen.

In der Haustür empfing uns der Vater. Er schien noch kleiner geworden zu sein. »Er ist nicht bei sich«, sagte er leise, »und der Arzt ist da, aber kommen Sie nur herein, meine Herren! Ich danke Ihnen vielmals, Herr Tormann!«

Das Zimmer war halbdunkel, und in der Ecke stand ein breites Bett. Dort lag er. Sein Kopf war hochrot, und es fiel mir ein, daß er der Kleinste der Klasse war. Seine Mutter war auch klein.

Der große Tormann blieb verlegen stehen. Also hier lag einer seiner ehrlichsten Bewunderer. Einer von den vielen tausend, die ihm zujubeln, die am meisten schreien, die seine Biographie kennen, die ihn um Autogramme bitten, die so gerne hinter seinem Tor sitzen und die er durch die Ordner immer wieder vertreiben läßt. Er setzte sich still neben das Bett und sah ihn an.

Die Mutter beugte sich über das Bett. »Heinrich«, sagte sie, »der Tormann ist da.«

Der Junge öffnete die Augen und erblickte den Tormann. »Fein«, lächelte er.

»Ich bin gekommen«, sagte der Tormann, »denn du wolltest mich sehen.«

»Wann spielt ihr gegen England?« fragte der Junge.

»Das wissen die Götter«, meinte der Tormann, »sie streiten sich im Verband herum. Wir haben Terminschwierigkeiten – ich glaub, wir werden eher noch gegen Schottland spielen.«

»Gegen die Schotten gehts leichter –«

»Oho! Die Schotten schießen ungeheuer rasch und aus jeder Lage.«

»Erzähl, erzähl!«

Und der Tormann erzählte. Er sprach von berühmtgewordenen Siegen und unverdienten Niederlagen, von strengen Schiedsrichtern und korrupten Linienrichtern. Er stand auf, nahm zwei Stühle, markierte mit ihnen das Tor und demonstrierte, wie er einst zwei Elfer hintereinander abgewehrt hatte. Er zeigte seine Narbe auf der Stirne, die er sich in Lissabon bei einer tollkühnen Parade geholt hatte. Und er sprach von fernen Ländern, in denen er sein Heiligtum hütete, von Afrika, wo die Beduinen mit dem Gewehr im Publikum sitzen, und von der schönen Insel Malta, wo das Spielfeld leider aus Stein besteht –

Und während der Tormann erzählte, schlief der kleine W ein. Mit einem seligen Lächeln, still und friedlich. – – –

Das Begräbnis fand an einem Mittwoch statt, nachmittags um halb zwei. Die Märzsonne schien, Ostern war nicht mehr weit.

Wir standen um das offene Grab. Der Sarg lag schon drunten.

Der Direktor war anwesend mit fast allen Kollegen, nur der Physiker fehlte, ein Sonderling. Der Pfarrer hielt die Grabrede, die Eltern und einige Verwandte verharrten regungslos.

Und im Halbkreis uns gegenüber standen die Mitschüler des Verstorbenen, die ganze Klasse, alle fünfundzwanzig.

Neben dem Grab lagen die Blumen. Ein schöner Kranz trug auf einer gelb-grünen Schleife die Worte: »Letzte Grüße Dein Tormann.«

Und während der Pfarrer von der Blume sprach, die blüht und bricht, entdeckte ich den N.

Er stand hinter dem L, H und F.

Ich beobachtete ihn. Nichts rührte sich in seinem Gesicht.

Jetzt sah er mich an.

Er ist dein Todfeind, fühlte ich. Er hält dich für einen Verderber. Wehe, wenn er älter wird! Dann wird er alles zerstören, selbst die Ruinen deiner Erinnerung.

Er wünscht dir, du lägest jetzt da drunten. Und er wird auch dein Grab vernichten, damit es niemand erfährt, daß du gelebt hast.

Du darfst es dir nicht anmerken lassen, daß du weißt, was er denkt, ging es mir plötzlich durch den Sinn. Behalt sie für dich, deine bescheidenen Ideale, es werden auch nach einem N noch welche kommen, andere Generationen – glaub nur ja nicht, Freund N, daß du meine Ideale überleben wirst! Mich vielleicht.

Und wie ich so dachte, spürte ich, daß mich außer dem N noch einer anstarrte. Es war der T.

Er lächelte leise, überlegen und spöttisch.

Hat er meine Gedanken erraten?

Er lächelte noch immer, seltsam starr.

Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz.

Ein Fisch?

 

Der totale Krieg

Vor drei Jahren erließ die Aufsichtsbehörde eine Verordnung, durch welche sie die üblichen Osterferien in gewisser Hinsicht aufhob. Es erging nämlich die Weisung an alle Mittelschulen, anschließend an das Osterfest die Zeltlager zu beziehen. Unter »Zeltlager« verstand man eine vormilitärische Ausbildung. Die Schüler mußten klassenweise auf zehn Tage in die sogenannte freie Natur hinaus und dort wie die Soldaten in Zelten kampieren, unter Aufsicht des Klassenvorstands. Sie wurden von Unteroffizieren im Ruhestand ausgebildet, mußten exerzieren, marschieren und vom vierzehnten Lebensjahr ab auch schießen. Natürlich waren die Schüler begeistert dabei, und wir Lehrer freuten uns auch, denn auch wir spielen gerne Indianer.

Am Osterdienstag konnten also die Bewohner eines abgelegenen Dorfes einen mächtigen Autobus anrollen sehen. Der Chauffeur hupte, als käme die Feuerwehr; Gänse und Hühner flohen entsetzt, die Hunde bellten, und alles lief zusammen. »Die Buben sind da! Die Buben aus der Stadt!« Wir sind um acht Uhr früh von unserem Gymnasium abgefahren, und jetzt war es halb drei, als wir vor dem Gemeindeamt hielten.

Der Bürgermeister begrüßt uns, der Gendarmerieinspektor salutiert. Der Lehrer des Dorfes ist natürlich am Platz, und dort eilt auch schon der Pfarrer herbei, er hat sich verspätet, ein runder freundlicher Herr.

Der Bürgermeister zeigt mir auf der Landkarte, wo sich unser Zeltlager befindet. Eine gute Stunde weit, wenn man gemütlich geht. »Der Feldwebel ist bereits dort«, sagt der Inspektor, »zwei Pioniere haben auf einem Pionierwagen die Zeltbahnen hinaufgeschafft, schon in aller Herrgottsfrüh!«

Während die Jungen aussteigen und ihr Gepäck zusammenklauben, betrachte ich noch die Landkarte: das Dorf liegt 761 Meter hoch über dem fernen Meere, wir sind schon sehr in der Nähe der großen Berge, lauter Zweitausender. Aber hinter denen stehen erst die ganz hohen und dunklen mit dem ewigen Schnee.

»Was ist das?« frage ich den Bürgermeister und deutete auf einen Gebäudekomplex auf der Karte, am westlichen Rande des Dorfes. »Das ist unsere Fabrik«, sagt der Bürgermeister, »das größte Sägewerk im Bezirk, aber leider wurde es voriges Jahr stillgelegt. Aus Rentabilitätsgründen« – fügt er noch hinzu und lächelt. »Jetzt haben wir viele Arbeitslose, es ist eine Not.«

Der Lehrer mischt sich ins Gespräch und setzt es mir auseinander, daß das Sägewerk einem Konzern gehört, und ich merke, daß er mit den Aktionären und Aufsichtsräten nicht sympathisiert. Ich auch nicht. Das Dorf sei arm, erklärt er mir weiter, die Hälfte lebe von Heimarbeit mit einem empörenden Schundlohn, ein Drittel der Kinder sei unterernährt –

»Jaja«, lächelt der Gendarmerieinspektor, »und das alles in der schönen Natur!«

Bevor wir zum Zeltlager aufbrechen, zieht mich noch der Pfarrer beiseite und spricht: »Hörens mal, verehrter Herr Lehrer, ich möchte Sie nur auf eine Kleinigkeit aufmerksam machen: anderthalb Stunden von Ihrem Lagerplatz befindet sich ein Schloß, der Staat hats erworben, und jetzt sind dort Mädchen einquartiert, so ungefähr im Alter Ihrer Buben da. Und die Mädchen laufen auch den ganzen Tag und die halbe Nacht umher, passens ein bißchen auf, daß mir keine Klagen kommen« – er lächelt.

»Ich werde aufpassen.«

»Nichts für ungut«, meint er, »aber wenn man fünfunddreißig Jahre im Beichtstuhl verbracht hat, wird man skeptisch bei anderthalb Stund Entfernung.« Er lacht. »Kommens mal zu mir, Herr Lehrer, ich hab einen prima neuen Wein bekommen!«

Um drei Uhr marschieren wir ab. Zuerst durch eine Schlucht, dann rechts einen Hang empor. In Serpentinen. Wir sehen ins Tal zurück. Es riecht nach Harz, der Wald ist lang. Endlich wird es lichter: vor uns liegt die Wiese, unser Platz. Wir kamen den Bergen immer näher.

Der Feldwebel und die beiden Pioniere sitzen auf Zeltbahnen und spielen Karten. Als sie uns kommen sehen, stehen sie rasch auf, und der Feldwebel stellt sich mir militärisch vor. Ein ungefähr fünfzigjähriger Mann in der Reserve. Er trägt eine einfache Brille, sicher kein unrechter Mensch.

Nun gehts an die Arbeit. Der Feldwebel und die Pioniere zeigen den Jungen, wie man Zelte baut, auch ich baue mit. In der Mitte des Lagers lassen wir ein Viereck frei, dort hissen wir unsere Fahne. Nach drei Stunden steht die Stadt. Die Pioniere salutieren und steigen ins Dorf hinab.

Neben der Fahnenstange liegt eine große Kiste: dort sind die Gewehre drin. Die Schießscheiben werden aufgestellt: hölzerne Soldaten in einer fremden Uniform. Der Abend kommt, wir zünden Feuer an und kochen ab. Es schmeckt uns gut, und wir singen Soldatenlieder. Der Feldwebel trinkt einen Schnaps und wird heiser. Jetzt weht der Bergwind.

»Der kommt von den Gletschern«, sagen die Jungen und husten.

Ich denke an den toten W.

Ja, du warst der Kleinste der Klasse – und der Freundlichste. Ich glaube, du wärest der einzige gewesen, der nichts gegen die Neger geschrieben hätt. Drum mußtest du auch weg. Wo bist du jetzt?

Hat dich ein Engel geholt, wie im Märchen? Flog er mit dir dorthin, wo all die seligen Fußballer spielen? Wo auch der Tormann ein Engel ist und vor allem der Schiedsrichter, der abpfeift, wenn einer dem Ball nachfliegt? Denn das ist im Himmel das Abseits. Sitzt du gut? Natürlich! Dort droben sitzt jeder auf der Tribüne, erste Reihe, Mitte, während die bösen Ordner, die dich immer hinter dem Tor vertrieben, jetzt hinter lauter Riesen stehen und nicht aufs Spielfeld schauen können. –

Es wird Nacht.

Wir gehen schlafen. »Morgen beginnt der Ernst!« meint der Feldwebel.

Er schläft mit mir im selben Zelt.

Ich entzünde noch mal meine Taschenlampe, um nach der Uhr zu sehen, und entdecke dabei auf der Zeltwand neben mir einen braunroten Fleck.

Was ist das?

Und ich denke, morgen beginnt der Ernst. Ja, der Ernst. In einer Kiste neben der Fahnenstange liegt der Krieg. Ja, der Krieg.

Wir stehen im Feld.

Und ich denke an die beiden Pioniere, an den Feldwebel in der Reserve, der noch kommandieren muß, und an die hölzernen Soldaten, an denen man das Schießen lernt; der Direktor fällt mir ein, der N und sein Vater, der Herr Bäckermeister bei Philippi; und ich denke an das Sägewerk, das nicht mehr sägt, und an die Aktionäre, die trotzdem mehr verdienen, an den Gendarmen, der lächelt, an den Pfarrer, der trinkt, an die Neger, die nicht leben müssen, an die Heimarbeiter, die nicht leben können, an die Aufsichtsbehörde und an die unterernährten Kinder. Und an die Fische.

Wir stehen alle im Feld. Doch wo ist die Front? Der Nachtwind weht, der Feldwebel schnarcht. Was ist das für ein braunroter Fleck? Blut?

 

Die marschierende Venus

Die Sonne kommt, wir stehen auf. Wir waschen uns im Bach und kochen Tee. Nach dem Frühstück läßt der Feldwebel die Jungen der Größe nach in zwei Reihen hintereinander antreten. Sie zählen ab, er teilt sie ein, in Züge und Gruppen. »Heut wird noch nicht geschossen«, sagt er, »heut wird erst ein bißchen exerziert!«

Er kontrolliert scharf, ob die Reihen schnurgerad stehen. Das eine Auge kneift er zu: »Etwas vor, etwas zurück – besonders der dritte dort hinten, der steht ja einen Kilometer zu weit vorn!« Der dritte ist der Z. Wie schwer sich der einreihen läßt, wunder ich mich, und plötzlich hör ich die Stimme des N. Er fährt den Z an: »Hierher, Idiot!«

»Nanana!« meint der Feldwebel. »Nur nicht grob werden! Das war mal, daß man die Soldaten beschimpft hat, aber heut gibts keine Beleidigungen mehr, merk dir das, ja?!«

Der N schweigt. Er wird rot und trifft mich mit einem flüchtigen Blick. Jetzt könnt er dich aber gleich erwürgen, fühle ich, denn er ist der Blamierte. Es freut mich, aber ich lächle nicht.

»Regiment marsch!« kommandiert der Feldwebel, und dann zieht es davon, das Regiment. Vorne die Großen, hinten die Kleinen. Bald sind sie im Wald verschwunden. Zwei blieben mit mir im Lager zurück, ein M und ein B. Sie schälen Kartoffeln und kochen die Suppe. Sie schälen mit stummer Begeisterung.

»Herr Lehrer!« ruft plötzlich der M. »Schauens mal, was dort anmarschiert kommt!« Ich schaue hin: in militärischer Ordnung marschieren etwa zwanzig Mädchen auf uns zu, sie tragen schwere Rucksäcke, und als sie näher kommen, hören wir, daß sie singen. Sie singen Soldatenlieder mit zirpendem Sopran. Der B lacht laut. Jetzt erblicken sie unser Zeltlager und halten. Die Führerin spricht auf die Mädchen ein und geht dann allein auf uns zu. Zirka zweihundert Meter. Ich geh ihr entgegen.

Wir werden bekannt, sie ist Lehrerin in einer größeren Provinzstadt, und die Mädchen gehen in ihre Klasse. Jetzt wohnen sie in einem Schloß, es sind also dieselben, vor denen mich der Herr Pfarrer warnte.

Ich begleite meine Kollegin zurück, die Mädchen starren mich an wie Kühe auf der Weide. Nein, der Herr Pfarrer braucht sich keine Sorgen zu machen, denn, alles was recht ist, einladend sehen diese Geschöpfe nicht aus!

Verschwitzt, verschmutzt und ungepflegt, bieten sie dem Betrachter keinen erfreulichen Anblick.

Die Lehrerin scheint meine Gedanken zu erraten, sie ist also wenigstens noch in puncto Gedankenlesen ein Weib und setzt mir folgendes auseinander: »Wir berücksichtigen weder Flitter noch Tand, wir legen mehr Wert auf das Leistungsprinzip als auf das Darbietungsprinzip.«

Ich will mich mit ihr nicht über den Unwert der verschiedenen Prinzipien auseinandersetzen, sage nur: »Aha!« und denke mir, neben diesen armen Tieren ist ja selbst der N noch ein Mensch.

»Wir sind eben Amazonen«, fährt die Lehrerin fort. Aber die Amazonen sind nur eine Sage, doch ihr seid leider Realität. Lauter mißleitete Töchter der Eva!

Julius Caesar fällt mir ein.

Er kann sich für keine rucksacktragende Venus begeistern. Ich auch nicht. –

Bevor sie weitermarschieren, erzählt mir die Lehrerin noch, die Mädchen würden heut vormittag den verschollenen Flieger suchen. Wieso, ist einer abgestürzt? Nein, das »Verschollenen-Flieger-Suchen« sei nur ein neues wehrsportliches Spiel für die weibliche Jugend. Ein großer weißer Karton wird irgendwo im Unterholz versteckt, die Mädchen schwärmen in Schwarmlinie durch das Unterholz und suchen den versteckten Karton. »Es ist für den Fall eines Krieges gedacht«, fügt sie noch erläuternd hinzu, »damit wir gleich eingesetzt werden können, wenn einer abgestürzt ist. Im Hinterland natürlich, denn Weiber kommen ja leider nicht an die Front.«

Leider!

Dann ziehen sie weiter in militärischer Ordnung. Ich seh ihnen nach: vom vielen Marschieren wurden die kurzen Beine immer kürzer. Und dicker.

Marschiert nur zu, Mütter der Zukunft!

Unkraut

Der Himmel ist zart, die Erde blaß. Die Welt ist ein Aquarell mit dem Titel: »April«.

Ich geh um das Lager herum und folge dann einem Feldweg. Was liegt dort hinter dem Hügel?

Der Weg macht eine große Krümmung, er weicht dem Unterholz aus. Die Luft ist still wie die ewige Ruh. Nichts brummt, nichts summt. Die meisten Käfer schlafen noch.

Hinter dem Hügel liegt in einer Mulde ein einsamer Bauernhof. Kein Mensch ist zu sehen. Auch der Hund scheint fortgegangen zu sein. Ich will schon hinabsteigen, da halte ich unwillkürlich, denn plötzlich erblicke ich hinter der Hecke an der schmalen Straße, die am Hof vorbeiführt, drei Gestalten. Es sind Kinder, die sich verstecken, zwei Buben und ein Mädchen. Die Buben dürften dreizehn Jahre alt sein, das Mädchen vielleicht zwei Jahre älter. Sie sind barfuß. Was treiben sie dort, warum verstecken sie sich? Ich warte. Jetzt erhebt sich der eine Bub und geht auf den Hof zu, plötzlich schrickt er zusammen und verkriecht sich rasch wieder hinter der Hecke. Ich höre einen Wagen rasseln. Ein Holzfuhrwerk mit schweren Pferden fährt langsam vorbei. Als es nicht mehr zu sehen ist, geht der Bub wieder auf den Hof zu, er tritt an die Haustür und klopft. Er muß mit einem Hammer geklopft haben, denke ich, denn es dröhnte so laut. Er lauscht und die beiden anderen auch. Das Mädel hat sich emporgereckt und schaut über die Hecke. Sie ist groß und schlank, geht es mir durch den Sinn. Jetzt klopft der Bub wieder, noch lauter. Da öffnet sich die Haustür und eine alte Bäuerin erscheint, sie geht gebückt auf einen Stock. Sie sieht sich um, als würde sie schnuppern. Der Bub gibt keinen Ton von sich. Plötzlich ruft die Alte: »Wer ist denn da?!« Warum ruft sie, wenn der Bub vor ihr steht? Jetzt schreit siewieder: »Wer ist denn da?!« Sie geht mit dem Stock tastend an dem Buben vorbei, sie scheint ihn nicht zu sehen – ist sie denn blind? Das Mädel deutet auf die offene Haustür, es sieht aus, als wärs ein Befehl, und der Bub schleicht auf Zehenspitzen ins Haus hinein. Die Alte steht und lauscht. Ja, sie ist blind. Jetzt klirrts im Haus, als wär ein Teller zerbrochen. Die Blinde zuckt furchtbar zusammen und brüllt: »Hilfe! Hilfe!« – da stürzt das Mädel auf sie los und hält ihr den Mund zu, der Bub erscheint in der Haustür mit einem Laib Brot und einer Vase, das Mädel schlägt der Alten den Stock aus der Hand – ich rase hinab. Die Blinde wankt, stolpert und stürzt, die drei Kinder sind verschwunden.

Ich bemühe mich um die Alte, sie wimmert. Ein Bauer eilt herbei, er hat das Geschrei gehört und hilft mir. Wir bringen sie in das Haus, und ich erzähle dem Bauer, was ich beobachtet habe. Er ist nicht sonderlich überrascht: »Jaja, sie haben die Mutter herausgelockt, damit sie durch die offene Tür hinein können; es ist immer dieselbe Bagage, man faßt sie nur nicht. Sie stehlen wie die Raben, eine ganze Räuberbande!«

»Kinder?!«

»Ja«, nickt der Bauer, »auch drüben im Schloß, wo die Mädchen liegen, haben sie schon gestohlen. Erst unlängst die halbe Wäsch. Passens nur auf, daß sie Ihnen im Lager keinen Besuch abstatten!«

»Nein – nein! Wir passen schon auf!«

»Denen trau ich alles zu. Es ist Unkraut und gehört vertilgt!«

 

Der verschollene Flieger

Ich gehe ins Lager zurück. Die Blinde hat sich beruhigt und war mir dankbar. Wofür? Ist es denn nicht selbstverständlich, daß ich sie nicht auf dem Boden liegen ließ? Eine verrohte Gesellschaft, diese Kinder!

Ich halte plötzlich, denn es wird mir ganz seltsam zumute. Ich entrüste mich ja gar nicht über diesen Roheitsakt, geschweige denn über das gestohlene Brot, ich verurteile nur. Warum bin ich nur nicht empört? Weil es arme Kinder sind, die nichts zum Fressen haben? Nein, das ist es nicht.

Der Weg macht eine große Krümmung, und ich schneide ihn ab. Das darf ich mir ruhig leisten, denn ich habe einen guten Orientierungssinn und werde das Zeltlager finden.

Ich gehe durch das Unterholz. Hier steht das Unkraut und gedeiht. Immer muß ich an das Mädel denken, wie es sich reckt und über die Hecke schaut. Ist sie der Räuberhauptmann? Ihre Augen möchte ich sehen. Nein, ich bin kein Heiliger!

Das Dickicht wird immer schlimmer.

Was liegt denn dort?

Ein weißer Karton. Darauf steht mit roten Buchstaben: »Flugzeug«. Ach, der verschollene Flieger! Sie haben ihn noch nicht gefunden.

Also hier bist du abgestürzt? War es ein Luftkampf oder ein Abwehrgeschütz? Bist du ein Bomber gewesen? Jetzt liegst du da, zerschmettert, verbrannt, verkohlt. Karton, Karton!

Oder lebst du noch? Bist schwer verwundet, und sie finden dich nicht? Bist ein feindlicher oder ein eigener? Wofür stirbst du jetzt, verschollener Flieger?

Karton!

Und da höre ich eine Stimme: »Niemand kann das ändern« – es ist die Stimme einer Frau. Traurig und warm. Sie klingt aus dem Dickicht.

Vorsichtig biege ich die Äste zurück.

Dort sitzen zwei Mädchen vom Schloß. Mit den Beinen, kurz und dick. Die eine hält einen Kamm in der Hand, die andere weint.

»Was geht er mich denn an, der verschollene Flieger?« schluchzt sie. »Was soll ich denn da im Wald herumlaufen? Schau, wie meine Beine geschwollen sind, ich möcht nicht mehr marschieren! Von mir aus soll er draufgehen, der verschollene Flieger, ich möcht auch leben! Nein, ich will fort, Annie, fort! Nur nicht mehr im Schloß schlafen, das ist ja ein Zuchthaus! Ich möcht mich waschen und kämmen und bürsten!«

»Sei ruhig«, tröstet sie Annie und kämmt ihr liebevoll das fette Haar aus dem verweinten Gesicht. »Was sollen wir armen Mädchen tun? Auch die Lehrerin hat neulich heimlich geweint. Mama sagt immer, die Männer sind verrückt geworden und machen die Gesetze.«

Ich horche auf. Die Männer?

Jetzt küßt Annie ihre Freundin auf die Stirne, und ich schäme mich. Wie schnell war ich heut mit dem Spott dabei!

Ja, vielleicht hat Annies Mama recht. Die Männer sind verrückt geworden, und die nicht verrückt geworden sind, denen fehlt der Mut, die tobenden Irrsinnigen in die Zwangsjacken zu stecken.

Ja, sie hat recht.

Auch ich bin feig.

 

Geh heim!

Ich betrete das Lager. Die Kartoffeln sind geschält, die Suppe dampft. Das Regiment ist wieder zu Haus. Die Jungen sind munter, nur der Feldwebel klagt über Kopfschmerzen. Er hat sich etwas überanstrengt, doch will ers nicht zugeben. Plötzlich fragt er: »Für wie alt halten Sie mich, Herr Lehrer?«

»Zirka fünfzig.« »Dreiundsechzig«, lächelt er geschmeichelt. »Ich war sogar im Weltkrieg schon Landsturm.« Ich fürchte, er beginnt, Kriegserlebnisse zu erzählen, aber ich fürchte mich umsonst. »Reden wir lieber nicht vom Krieg«, sagt er, »ich hab drei erwachsene Söhne.« Er betrachtet sinnend die Berge und schluckt das Aspirin. Ein Mensch.

Ich erzähl ihm von der Räuberbande. Er springt auf und läßt die Jungen sofort antreten. Er hält eine Ansprache an sein Regiment: in der Nacht würden Wachen aufgestellt werden, je vier Jungen für je zwei Stunden. Osten, Westen, Süden, Norden. Das Lager müßte verteidigt werden, Gut mit Blut, bis zum letzten Mann!

Die Jungen schreien begeistert »Hurra!«

»Komisch«, meint der Feldwebel, »jetzt hab ich keine Kopfschmerzen mehr« –

Nach dem Mittagessen steig ich ins Dorf hinab. Ich muß mit dem Bürgermeister verschiedene Fragen ordnen: einige Formalitäten und die Nahrungsmittelzufuhr; denn ohne zu essen, kann man nicht exerzieren.

Beim Bürgermeister treffe ich den Pfarrer, und er läßt nicht locker, ich muß zu ihm mit, seinen neuen prima Wein probieren. Ich trinke gern, und der Pfarrer ist ein gemütlicher Herr. Wir gehen durchs Dorf, und die Bauern grüßen den Pfarrer. Er führt mich den kürzesten Weg zum Pfarrhaus. Jetzt biegen wir in eine Seitenstraße. Hier hören die Bauern auf. »Hier wohnen die Heimarbeiter«, sagt der Pfarrer und blickt zum Himmel empor.

Die grauen Häuser stehen dicht beieinander. An den offenen Fenstern sitzen lauter Kinder mit weißen, alten Gesichtern und bemalen bunte Puppen. Hinter ihnen ist es schwarz. »Sie sparen das Licht«, sagt der Pfarrer und fügt noch hinzu: »Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.« Er beginnt plötzlich schneller zu gehen. Ich gehe gerne mit.

Die Kinder sehen mich groß an, seltsam starr. Nein, das sind keine Fische, das ist kein Hohn, das ist Haß. Und hinter dem Haß sitzt die Trauer in den finsteren Zimmern. Sie sparen das Licht, denn sie haben kein Licht. Das Pfarrhaus liegt neben der Kirche. Die Kirche ist ein strenger Bau, das Pfarrhaus liegt gemächlich da. Um die Kirche herum liegt der Friedhof, um das Pfarrhaus herum ein Garten. Im Kirchturm läuten die Glocken, aus dem Rauchfang des Pfarrhauses steigt blauer Dunst. Im Garten des Todes blühen die weißen Blumen, im Garten des Pfarrers wächst das Gemüse. Dort stehen Kreuze, hier steht ein Gartenzwerg. Und ein ruhendes Reh. Und ein Pilz.

Im Pfarrhaus drinnen ist Sauberkeit. Kein Stäubchen fliegt durch die Luft. Im Friedhof daneben wird alles zu Staub.

Der Pfarrer führt mich in sein schönstes Zimmer. »Nehmen Sie Platz, ich hole den Wein!«

Er geht in den Keller, ich bleibe allein.

Ich setze mich nicht.

An der Wand hängt ein Bild.

Ich kenne es.

Es hängt auch bei meinen Eltern.

Sie sind sehr fromm.

Es war im Krieg, da habe ich Gott verlassen. Es war zuviel verlangt von einem Kerl in den Flegeljahren, daß er begreift, daß Gott einen Weltkrieg zuläßt. Ich betrachte noch immer das Bild.

Gott hängt am Kreuz. Er ist gestorben. Maria weint, und Johannes tröstet sie. Den schwarzen Himmel durchzuckt ein Blitz. Und rechts im Vordergrunde steht ein Krieger in Helm und Panzer, der römische Hauptmann.

Und wie ich das Bild so betrachte, bekomme ich Sehnsucht nach meinem Vaterhaus

Ich möchte wieder klein sein.

Aus dem Fenster schauen, wenn es stürmt. Wenn die Wolken niedrig hängen, wenn es donnert, wenn es hagelt.

Wenn der Tag dunkel wird. Und es fällt mir meine erste Liebe ein. Ich möcht sie nicht wiedersehen. Geh heim!

Und es fällt mir die Bank ein, auf der ich saß und überlegte: was willst du werden? Lehrer oder Arzt?

Lieber als Arzt wollte ich Lehrer werden. Lieber als Kranke heilen, wollte ich Gesunden etwas mitgeben, einen winzigen Stein für den Bau einer schöneren Zukunft.

Die Wolken ziehen, jetzt kommt der Schnee.

Geh heim!

Heim, wo du geboren wurdest. Was suchst du noch auf der Welt? Mein Beruf freut mich nicht mehr. Geh heim!