Der römische Hauptmann

Vier Tage sind wir nun im Lager. Gestern erklärte der Feldwebel den Jungen den Mechanismus des Gewehres, wie man es pflegt und putzt. Heut putzen sie den ganzen Tag, morgen werden sie schießen. Die hölzernen Soldaten warten bereits darauf, getroffen zu werden.

Die Jungen fühlen sich überaus wohl, der Feldwebel weniger. Er ist in diesen vier Tagen zehn Jahre älter geworden. In weiteren vier wird er älter aussehen, als er ist. Außerdem hat er sich den Fuß übertreten und wahrscheinlich eine Sehne verzerrt, denn er hinkt.

Doch er verbeißt seine Schmerzen. Nur mir erzählte er gestern vor dem Einschlafen, er würde schon ganz gern wieder Kegel schieben, Karten spielen, in einem richtigen Bett liegen, eine stramme Kellnerin hinten hineinzwicken, kurz: zu Hause sein. Dann schlief er ein und schnarchte.

Er träumte, er wäre ein General und hätt eine Schlacht gewonnen. Der Kaiser hätt alle seine Orden ausgezogen und selbe ihm an die Brust geheftet. Und an den Rücken. Und die Kaiserin hätt ihm die Fuß geküßt.

»Was hat das zu bedeuten? « fragte er mich in aller Früh.

»Wahrscheinlich ein Wunschtraum«, sagte ich. Er sagte, er hätte es sich noch nie in seinem Leben gewünscht, daß ihm eine Kaiserin die Fuß küßt. »Ich werds mal meiner Frau schreiben«, meinte er nachdenklich, »die hat ein Traumbuch. Sie soll mal nachschauen, was General, Kaiser, Orden, Schlacht, Brust und Rücken bedeuten.«

Während er vor unserem Zelte schrieb, erschien aufgeregt ein Junge, und zwar der L.

»Was gibts?«

»Ich bin bestohlen worden!«

»Bestohlen?«

»Man hat mir meinen Apparat gestohlen, Herr Lehrer, meinen photographischen Apparat!«

Er war ganz außer sich.

Der Feldwebel sah mich an. Was tun? lag in seinem Blick. »Antreten lassen«, sagte ich, denn mir fiel auch nichts Besseres ein. Der Feldwebel nickte befriedigt, humpelte auf den freien Platz, wo die Fahne wehte, und brüllte wie ein alter Hirsch:

»Regiment antreten!«

Ich wandte mich an den L:

»Hast du einen Verdacht?«

»Nein.«

Das Regiment war angetreten. Ich verhörte sie, keiner konnte etwas sagen. Ich ging mit dem Feldwebel in das Zelt, wo der L schlief. Sein Schlafsack lag gleich neben dem Eingang links.

Wir fanden nichts.

»Ich halte es für ausgeschlossen«, sagte ich zum Feldwebel, »daß einer der Jungen der Dieb ist, denn sonst wären ja auch mal im Schuljahr Diebstähle vorgekommen. Ich glaube eher, daß die aufgestellten Wachen nicht richtig ihre Pflicht erfüllten, so daß die Räuberbande sich hereinschleichen konnte.« Der Feldwebel gab mir recht, und wir beschlossen, in der folgenden Nacht die Wachen zu kontrollieren. Aber wie?

Ungefähr hundert Meter vom Lager entfernt stand ein Heuschober. Dort wollten wir übernachten und von dort aus die Wachen kontrollieren. Der Feldwebel von neun bis eins und ich von eins bis sechs.

Nach dem Nachtmahl schlichen wir uns heimlich aus dem Lager. Keiner der Jungen bemerkte uns. Ich machte es mir im Heu bequem. –

Um ein Uhr nachts weckt mich der Feldwebel.

»Bis jetzt ist alles in Ordnung«, meldet er mir. Ich klettere aus dem Heu und postiere mich im Schatten der Hütte. Im Schatten?

Ja, denn es ist eine Vollmondnacht.

Eine herrliche Nacht.

Ich sehe das Lager und erkenne die Wachen. Jetzt werden sie abgelöst. Sie stehen oder gehen ein paar Schritte hin und her.

Osten, Westen, Norden, Süden – auf jeder Seite einer. Sie bewachen ihre photographischen Apparate.

Und wie ich so sitze, fällt mir das Bild ein, das beim Pfarrer hängt und auch bei meinen Eltern.

Die Stunden gehen.

Ich unterrichte Geschichte und Geographie.

Ich muß die Gestalt der Erde erklären und ihre Geschichte deuten.

Die Erde ist noch rund, aber die Geschichten sind viereckig geworden.

Jetzt sitze ich da und darf nicht rauchen, denn ich überwache die Wache.

Es ist wahr: mein Beruf freut mich nicht mehr. Warum fiel mir nur jenes Bild wieder ein?

Wegen des Gekreuzigten? Nein.

Wegen seiner Mutter – nein. Plötzlich wirds mir klar: wegen des Kriegers in Helm und Panzer, wegen des römischen Hauptmanns.

Was ist denn nur mit dem?

Er leitete die Hinrichtung eines Juden. Und als der Jude starb, sagte er: »Wahrlich, so stirbt kein Mensch!«

Er hat also Gott erkannt.

Aber was tat er? Was zog er für Konsequenzen? Er blieb ruhig unter dem Kreuze stehen.

Ein Blitz durchzuckte die Nacht, der Vorhang im Tempel riß, die Erde bebte – er blieb stehen.

Er erkannte den neuen Gott, als der am Kreuze starb, und wußte nun, daß seine Welt zum Tode verurteilt war. Und?

Ist er etwa in einem Krieg gefallen? Hat er es gewußt, daß er für nichts fällt?

Freute ihn noch sein Beruf?

Oder ist er etwa alt geworden? Wurde er pensioniert? Lebte er in Rom oder irgendwo an der Grenze, wo es billiger war?

Vielleicht hatte er dort ein Häuschen. Mit einem Gartenzwerg. Und am Morgen erzählte ihm seine Köchin, daß gestern jenseits der Grenze wieder neue Barbaren aufgetaucht sind. Die Lucia vom Herrn Major hat sie mit eigenen Augen gesehen.

Neue Barbaren, neue Völker.

Sie rüsten, sie rüsten. Sie warten.

Und der römische Hauptmann wußte es, die Barbaren werden alles zertrümmern. Aber es rührte ihn nicht. Für ihn war bereits alles zertrümmert.

Er lebte still als Pensionist, er hatte es durchschaut. Das große römische Reich.

 

Der Dreck

Der Mond hängt nun direkt über den Zelten.

Es muß zirka zwei Uhr sein. Und ich denke, jetzt sind die Cafés noch voll.

Was macht jetzt wohl Julius Caesar?

Er wird seinen Totenkopf illuminieren, bis ihn der Teufel holt!

Komisch: ich glaube an den Teufel, aber nicht an den lieben Gott.

Wirklich nicht?

Ich weiß es nicht. Doch, ich weiß es! Ich will nicht an ihn glauben! Nein, ich will nicht!

Es ist mein freier Wille.

Und die einzige Freiheit, die mir verblieb: glauben oder nicht glauben zu dürfen.

Aber offiziell natürlich so zu tun, als ob.

Je nachdem: einmal ja, einmal nein.

Was sagte der Pfaffe?

»Der Beruf des Priesters besteht darin, den Menschen auf den Tod vorzubereiten, denn wenn der Mensch keine Angst vor dem Sterben mehr hat, wird ihm das Leben leichter.«

Satt wird er nicht davon!

»Aus diesem Leben des Elends und der Widersprüche«, sagte der Pfaffe, »rettet uns einzig und allein die göttliche Gnade und der Glaube an die Offenbarung.«

Ausreden! »Wir werden gestraft und wissen nicht wofür.«

Frag die Regierenden!

Und was sagte der Pfaffe noch?

»Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.«

Stimmt! – –

Lieblich waren die Gedanken, die mein Herz durchzogen. Sie kamen aus dem Kopf, kostümierten sich mit Gefühl, tanzten und berührten sich kaum.

Ein vornehmer Ball. Exklusive Kreise. Gesellschaft!

Im Mondlicht drehten sich die Paare.

Die Feigheit mit der Tugend, die Lüge mit der Gerechtigkeit, die Erbärmlichkeit mit der Kraft, die Tücke mit dem Mut.

Nur die Vernunft tanzte nicht mit.

Sie hatte sich besoffen, hatte nun einen Moralischen und schluchzte in einer Tour: »Ich bin blöd, ich bin blöd!« –

Sie spie alles voll.

Aber man tanzte darüber hinweg.

Ich lausche der Ballmusik.

Sie spielt einen Gassenhauer, betitelt: »Der einzelne im Dreck.«

Sortiert nach Sprache, Rasse und Nation stehen die Haufen nebeneinander und fixieren sich, wer größer ist. Sie stinken, daß sich jeder einzelne die Nase zuhalten muß.

Lauter Dreck! Alles Dreck!

Düngt damit!

Dünget die Erde, damit etwas wächst!

Nicht Blumen, sondern Brot!

Aber betet euch nicht an!

Nicht den Dreck, den ihr gefressen habt!

 

Z und N

Fast vergaß ich meine Pflicht: vor einem Heuschober zu sitzen, nicht rauchen zu dürfen und die Wache zu kontrollieren.

Ich blicke hinab: dort wachen sie.

Ost und West, Nord und Süd.

Alles in Ordnung.

Doch halt! Dort geht doch was vor sich –

Was denn?

Im Norden.

Dort spricht doch der Posten mit jemand. Wer ist denn der Posten?

Es ist der Z.

Mit wem spricht er denn?

Oder ists nur der Schatten einer Tanne?

Nein, das ist kein Schatten, das ist eine Gestalt.

Jetzt scheint der Mond auf sie: es ist ein Junge. Ein fremder Junge.

Was ist dort los?

Der Fremde scheint ihm etwas zu geben, dann ist er verschwunden.

Der Z rührt sich kurze Zeit nicht, ganz regungslos steht er da.

Lauscht er?

Er sieht sich vorsichtig um und zieht dann einen Brief aus der Tasche. Ach, er hat einen Brief bekommen!

Er erbricht ihn rasch und liest ihn im Mondenschein.

Wer schreibt dem Z? –

Der Morgen kommt, und der Feldwebel erkundigt sich, ob ich etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte. Ich sage, ich hätte gar nichts wahrgenommen und die Wachen hätten ihre Pflicht erfüllt.

Ich schweige von dem Brief, denn ich weiß es ja noch nicht, ob dieser Brief mit dem gestohlenen Photoapparat irgendwie zusammenhängt. Das muß sich noch klären und bis es nicht bewiesen wurde, will ich den Z in keinen Verdacht bringen.

Wenn man nur den Brief lesen könnte!

Als wir das Lager betreten, empfangen uns die Jungen erstaunt. Wann wir denn das Lager verlassen hätten? »Mitten in der Nacht«, lügt der Feldwebel, »und zwar ganz aufrecht, aber von eueren Wachen hat uns keiner gehen sehen, ihr müßt schärfer aufpassen, denn bei einer solchen miserablen Bewachung tragens uns ja noch das ganze Lager weg, die Gewehre, die Fahne und alles, wofür wir da sind!«

Dann läßt er sein Regiment antreten und fragt, ob einer etwas Verdächtiges wahrgenommen hätte.

Keiner meldet sich.

Ich beobachte den Z.

Er steht regungslos da.

Was steht nur in dem Brief?

Jetzt hat er ihn in der Tasche, aber ich werde ihn lesen, ich muß ihn lesen.

Soll ich ihn direkt fragen?

Das hätte keinen Sinn. Er würde es glatt ableugnen, würde den Brief dann zerreißen, verbrennen, und ich könnt ihn nimmer lesen. Vielleicht hat er ihn sogar schon vernichtet. Und wer war der fremde Junge? Ein Junge, der um zwei Uhr nachts erscheint, eine Stunde weit weg vom Dorf? Oder wohnt er auf dem Bauernhof bei der blinden Alten? Aber auch dann: immer klarer wird es mir, daß jener zur Räuberbande gehören muß. Zum Unkraut. Ist denn der Z auch Unkraut? Ein Verbrecher?

Ich muß den Brief lesen, muß, muß! Der Brief wird allmählich zur fixen Idee.

Bumm!

Heute schießen sie zum erstenmal.

Bumm! Bumm! – Am Nachmittag kommt der R zu mir.

Er hat eine Bitte.

»Herr Lehrer«, sagt er, »ich bitte sehr, ich möchte in einem anderen Zelte schlafen. Die beiden, mit denen ich zusammen bin, raufen sich in einem fort, man kann kaum schlafen!«

»Wer sind denn die beiden?«

»Der N und der Z.«

»Der Z?«

»Ja. Aber angefangen hat noch immer der N!«

»Schick mir mal die beiden her!«

Er geht, und der N kommt.

»Warum raufst du immer mit dem Z?«

»Weil er mich nicht schlafen läßt. Immer weckt er mich auf. Er zündet oft mitten in der Nacht die Kerze an.«

»Warum?«

»Weil er seinen Blödsinn schreibt.«

»Er schreibt?«

»Ja.«

»Was schreibt er denn? Briefe?«

»Nein. Er schreibt sein Tagebuch.«

»Tagebuch?«

»Ja. Er ist blöd.«

»Deshalb muß man noch nicht blöd sein.«

Es trifft mich ein vernichtender Blick.

»Das Tagebuchschreiben ist der typische Ausdruck der typischen Überschätzung des eigenen Ichs«, sagt er.

»Kann schon stimmen«, antworte ich vorsichtig, denn ich kann mich momentan nicht erinnern, ob das Radio diesen Blödsinn nicht schon mal verkündet hat.

»Der Z hat sich extra ein Kästchen mitgenommen, dort sperrt er sein Tagebuch ein.«

»Schick mir mal den Z her!«

Der N geht, der Z kommt.

»Warum raufst du immer mit dem N?«

»Weil er ein Plebejer ist.«

Ich stutze und muß an die reichen Plebejer denken.

»Ja«, sagt der Z, »er kann es nämlich nicht vertragen, daß man über sich nachdenkt. Da wird er wild. Ich führe nämlich ein Tagebuch, und das liegt in einem Kästchen; neulich hat er es zertrümmern wollen, drum versteck ichs jetzt immer. Am Tag im Schlafsack, in der Nacht halt ichs in der Hand.«

Ich sehe ihn an.

Und frage ihn langsam: »Und wo ist das Tagebuch, wenn du auf Wache stehst?«

Nichts rührt sich in seinem Gesicht.

»Wieder im Schlafsack«, antwortet er.

»Und in dieses Buch schreibst du alles hinein, was du so erlebst?«

»Ja.«

»Was du hörst, siehst? Alles?«

Er wird rot.

»Ja«, sagt er leise.

Soll ich ihn jetzt fragen, wer ihm den Brief schrieb und was in dem Briefe steht? Nein. Denn es steht bei mir bereits fest, daß ich das Tagebuch lesen werde.

Er geht, und ich schau ihm nach.

Er denkt über sich nach, hat er gesagt.

Ich werde seine Gedanken lesen. Das Tagebuch des Z.

 

Adam und Eva

Kurz nach vier marschierte das Regiment wieder ab. Sogar das »Küchenpersonal« mußte diesmal mit, denn der Feldwebel wollte es allen erklären, wie man sich in die Erde gräbt und wo die Erde am geeignetsten für Schützengräben und Unterstände ist. Seit er humpelt, erklärt er lieber.

Es blieb also niemand im Lager, nur ich. Sobald das Regiment im Walde verschwand, betrat ich das Zelt, in welchem der Z mit N und R schlief. Im Zelte lagen drei Schlafsäcke. Auf dem linken lag ein Brief. Nein, der war es nicht. »Herrn Otto N« stand auf dem Kuvert, »Absender: Frau Elisabeth N« – ach, die Bäckermeistersgattin! Ich konnte nicht widerstehen, was schrieb wohl Mama ihrem Kindchen?

Sie schrieb: »Mein lieber Otto, danke Dir für Deine Postkarte. Es freut mich und Vater sehr, daß Du Dich wohl fühlst. Nur so weiter, paß nur auf Deine Strümpfe auf, damit sie nicht wieder verwechselt werden! Also in zwei Tagen werdet Ihr schon schießen? Mein Gott, wie die Zeiten vergehen! Vater läßt Dir sagen, Du sollst bei Deinem ersten Schusse an ihn denken, denn er war der beste Schütze seiner Kompanie. Denk Dir nur, Mandi ist gestern gestorben. Vorgestern hüpfte er noch so froh und munter in seinem Käfiglein herum und tirilierte uns zur Freud. Und heut war er hin. Ich weiß nicht, es grassiert eine Kanarikrankheit. Die Beinchen hat der Ärmste von sich gestreckt, ich hab ihn im Herdfeuer verbrannt. Gestern hatten wir einen herrlichen Rehrücken mit Preiselbeeren. Wir dachten an Dich. Hast Du auch gut zum Futtern? Vater läßt Dich herzlichst grüßen, Du sollst ihm nur immer weiter Bericht erstatten, ob der Lehrer nicht wieder solche Äußerungen fallen läßt wie über die Neger. Laß nur nicht locker! Vater bricht ihm das Genick! Es grüßt und küßt Dich, mein lieber Otto, Deine liebe Mutti.«

Im Schlafsack nebenan war nichts versteckt. Hier schlief also der R. Dann muß das Kästchen im dritten liegen.

Dort lag es auch.

Es war ein Kästchen aus blauem Blech und hatte ein einfaches Schloß.

Es war versperrt. Ich versuchte, das Schloß mit einem Draht zu öffnen.

Es ließ sich leicht.

In dem Kästchen lagen Briefe, Postkarten und ein grüngebundenes Buch – »Mein Tagebuch«, stand da in goldenen Lettern.

Ich öffnete es.

»Weihnachten von Deiner Mutter.«

Wer war die Mutter des Z? Mir scheint, eine Beamtenwitwe oder so.

Dann kamen die ersten Eintragungen, etwas von einem Christbaum – ich blätterte weiter, wir sind schon nach Ostern. Zuerst hat er jeden Tag geschrieben, dann nur jeden zweiten, dritten, dann jeden fünften, sechsten und hier, hier liegt der Brief!

Er ist es! Ein zerknülltes Kuvert, ohne Aufschrift, ohne Marke!

Rasch! Was steht nur drin?!

»Kann heute nicht kommen, komme morgen um zwei – Eva.«

Das war alles.

Wer ist Eva?

Ich weiß nur, wer Adam ist.

Adam ist der Z.

Und ich lese das Tagebuch:

»Mittwoch.

Gestern sind wir ins Lager gekommen. Wir sind alle sehr froh. Jetzt ist es Abend, bin gestern nicht zum Schreiben dazugekommen, weil wir alle sehr müde waren vom Zeltbau. Wir haben auch eine Fahne. Der Feldwebel ist ein alter Tepp, er merkts nicht, wenn wir ihn auslachen. Wir laufen schneller als er. Den Lehrer sehen wir Gott sei Dank fast nie. Er kümmert sich auch nicht um uns. Immer geht er mit einem faden Gesicht herum. Der N ist auch ein Tepp. Jetzt schreit er schon das zweitemal, ich soll die Kerze auslöschen, aber ich tus nicht, weil ich sonst überhaupt zu keinem Tagebuch mehr komme, und ich möcht doch eine Erinnerung fürs Leben. Heute nachmittag haben wir einen großen Marsch getan, bis an die Berge. Auf dem Wege dorthin sind wir bei Felsen vorübergekommen, in denen es viele Höhlen gibt. Auf einmal kommandiert der Feldwebel, wir sollen durch das Dickicht in Schwarmlinie gegen einen markierten Feind vorgehen, der sich auf einem Höhenzug mit schweren Maschinengewehren verschanzt hat. Wir schwärmten aus, sehr weit voneinander, aber das Dickicht wurde immer dichter, und plötzlich sah ich keinen mehr rechts und keinen mehr links. Ich hatte mich verirrt und war abgeschnitten. Auf einmal stand ich wieder vor einem Felsen mit einer Höhle, ich glaube, ich bin im Kreis herumgegangen. Plötzlich stand ein Mädchen vor mir. Sie war braunblond und hatte eine rosa Bluse, und es wunderte mich, woher und wieso sie überhaupt daherkommt. Sie fragte mich, wer ich wäre. Ich sagte es ihr. Zwei Buben waren noch dabei, beide barfuß und zerrissen. Der eine trug einen Laib Brot in der Hand, der andere eine Vase. Sie sahen mich feindlich an. Das Mädchen sagte ihnen, sie mögen nach Hause gehen, sie möcht mir nur den Weg zeigen heraus aus dem Dickicht. Ich war darüber sehr froh, und sie begleitete mich. Ich fragte sie, wo sie wohne, und sie sagte, hinter dem Felsen. Aber auf der militärischen Karte, die ich hatte, stand dort kein Haus und überhaupt nirgends in dieser Gegend. Die Karte ist falsch, sagte sie. So kamen wir an den Rand des Dickichts, und ich konnte in weiter Ferne das Zeltlager sehen. Und da blieb sie stehen und sagte zu mir, sie müsse jetzt umkehren und sie würde mir einen Kuß geben, wenn ich es niemand auf der Welt sagen würde, daß ich sie hier traf. Warum? fragte ich. Weil sie es nicht haben möchte, sagte sie. Ich sagte, geht in Ordnung, und sie gab mir einen Kuß auf die Wange. Das gilt nicht, sagte ich, ein Kuß gilt nur auf den Mund. Sie gab mir einen Kuß auf den Mund. Dabei steckte sie mir die Zunge hinein. Ich sagte, sie ist eine Sau und was sie denn mit der Zunge mache? Da lachte sie und gab mir wieder so einen Kuß. Ich stieß sie von mir. Da hob sie einen Stein auf und warf ihn nach mir. Wenn der meinen Kopf getroffen hätte, war ich jetzt hin. Ich sagte es ihr. Sie sagte, das würde ihr nichts ausmachen. Dann würdest du gehenkt, sagte ich. Sie sagte, das würde sie sowieso. Plötzlich wurde es mir unheimlich. Sie sagte, ich solle ganz in ihre Nähe kommen. Ich wollte nicht feig sein und kam. Da packte sie mich plötzlich und stieß mir noch einmal ihre Zunge in den Mund. Da wurde ich wütend, packte einen Ast und schlug auf sie ein. Ich traf sie auf den Rücken und die Schultern, aber nicht auf den Kopf. Sie gab keinen Ton von sich und brach zusammen. Da lag sie. Ich erschrak sehr, denn ich dachte, sie wäre vielleicht tot. Ich trat zu ihr hin und berührte sie mit dem Ast. Sie rührte sich nicht. Wenn sie tot ist, hab ich mir gedacht, laß ich sie da liegen und tue, als wäre nichts passiert. Ich wollte schon weg, aber da bemerkte ich, daß sie simulierte. Sie blinzelte mir nämlich nach. Ich ging rasch wieder hin. Ja, sie war nicht tot. Ich hab nämlich schon viele Tote gesehen, die sehen ganz anders aus. Schon mit sieben Jahren hab ich einen toten Polizisten und vier tote Arbeiter gesehen, es war nämlich ein Streik. Na wart, dachte ich, du willst mich da nur erschrecken, aber du springst schon auf – ich erfaßte vorsichtig unten ihren Rock und riß ihn plötzlich hoch. Sie hatte keine Hosen an. Sie rührte sich aber noch immer nicht, und mir wurde es ganz anders. Aber plötzlich sprang sie auf und riß mich wild zu sich herab. Ich kenne das schon. Wir liebten uns. Gleich daneben war ein riesiger Ameisenhaufen. Und dann versprach ich ihr, daß ich es niemand sagen werde, daß ich sie getroffen hab. Sie ist weggelaufen, und ich hab ganz vergessen zu fragen, wie sie heißt.

Donnerstag.

Wir haben Wachen aufgestellt wegen der Räuberbanden. Der N schreit schon wieder, ich soll die Kerze auslöschen. Wenn er noch einmal schreit, dann hau ich ihm eine herunter. – Jetzt hab ich ihm eine heruntergehaut. Er hat nicht zurückgehaut. Der blöde R hat geschrien, als hätt er es bekommen, der Feigling! Ich ärger mich nur, daß ich mit dem Mädel nichts ausgemacht hab. Ich hätte sie gerne wiedergesehen und mit ihr gesprochen. Ich fühlte sie heute vormittag unter mir, wie der Feldwebel ›Auf !‹ und ›Nieder‹ kommandiert hat. Ich muß immer an sie denken. Nur ihre Zunge mag ich nicht. Aber sie sagte, das sei Gewöhnung. Wie beim Autofahren das rasche Fahren. Was ist doch das Liebesgefühl für ein Gefühl! Ich glaube, so ähnlich muß es sein, wenn man fliegt. Aber fliegen ist sicher noch schöner. Ich weiß es nicht, ich möcht, daß sie jetzt neben mir liegt. Wenn sie nur da wär, ich bin so allein. Von mir aus soll sie mir auch die Zunge in den Mund stecken.

Freitag.

Übermorgen werden wir schießen, endlich! Heute Nachmittag hab ich mit dem N gerauft, ich bring ihn noch um. Der R hat dabei was abbekommen, was stellt sich der Idiot in den Weg! Aber das geht mich alles nichts mehr an, ich denke nur immer an sie und heute noch stärker. Denn heute nacht ist sie gekommen. Plötzlich, wie ich auf der Wache gestanden bin. Zuerst bin ich erschrocken, dann hab ich mich riesig gefreut und hab mich geschämt, daß ich erschrocken bin. Sie hats nicht bemerkt, Gott sei Dank! Sie hat so wunderbar gerochen, nach einem Parfüm. Ich fragte sie, woher sie es denn habe? Sie sagte, aus der Drogerie im Dorf. Das muß teuer gewesen sein, sagte ich. Oh nein, sagte sie, es kostete nichts. Dann umarmte sie mich wieder, und wir waren zusammen. Dabei fragte sie mich, was tun wir jetzt? Ich sagte, wir lieben uns. Ob wir uns noch oft lieben werden, fragte sie. Ja, sagte ich, noch sehr oft. Ob sie nicht ein verdorbenes Mädchen wäre? Nein, wie könne sie so was sagen! Weil sie mit mir in der Nacht herumliegt. Kein Mädchen ist heilig, sagte ich. Plötzlich sah ich eine Träne auf ihrer Wange, der Mond schien ihr ins Gesicht. Warum weinst du? Und sie sagte, weil alles so finster ist. Was denn? Und sie fragte mich, ob ich sie auch lieben würde, wenn sie eine verlorene Seele war? Was ist das? Und sie sagte mir, sie hätte keine Eltern und war mit zwölf Jahren eine Haustochter geworden, aber der Herr war ihr immer nachgestiegen, sie hätte sich gewehrt, und da hätte sie mal Geld gestohlen, um weglaufen zu können, weil sie die Frau immer geohrfeigt hätt wegen des Herrn, und da war sie in eine Besserungsanstalt gekommen, aber von dort wäre sie ausgebrochen, und jetzt wohne sie in einer Höhle und würde alles stehlen, was ihr begegnet. Vier Jungen aus dem Dorf, die nicht mehr Puppen malen wollten, wären auch dabei, sie war aber die älteste und die Anführerin. Aber ich dürfe es niemand sagen, daß sie so eine sei, denn dann käme sie wieder in die Besserungsanstalt. Und sie tat mir furchtbar leid, und ich fühlte plötzlich, daß ich eine Seele habe. Und ich sagte es ihr, und sie sagte mir, ja, jetzt fühle sie es auch, daß sie eine Seele habe. Ich dürfe sie aber nicht mißverstehen, wenn jetzt, während sie bei mir ist, im Lager etwas gestohlen wird. Ich sagte, ich würde sie nie mißverstehen, nur mir dürfe sie nichts stehlen, denn wir gehörten zusammen. Dann mußten wir uns trennen, denn nun wurde ich bald abgelöst. Morgen treffen wir uns wieder. Ich weiß jetzt, wie sie heißt. Eva.

Samstag.

Heute war große Aufregung, denn dem L wurde sein Photo gestohlen. Schadet nichts! Sein Vater hat drei Fabriken, und die arme Eva muß in einer Höhle wohnen. Was wird sie machen, wenn Winter ist? Der N schreit schon wieder wegen dem Licht. Ich werd ihn noch erschlagen.

Ich kann die Nacht kaum erwarten, bis sie kommt! Ich möcht mit ihr in einem Zelt leben, aber ohne Lager, ganz allein! Nur mit ihr! Das Lager freut mich nicht mehr. Es ist alles nichts.

Oh Eva, ich werde immer für dich da sein! Du kommst in keine Besserungsanstalt mehr, in keine mehr, das schwör ich dir zu! Ich werde dich immer beschützen! Der N schreit, er wird mein Kästchen zertrümmern, morgen, er soll es nur wagen! Denn hier sind meine innersten Geheimnisse drinnen, die niemand was angehen. Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!«

 

Verurteilt

»Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!«

Ich lese den Satz zweimal und muß lächeln.

Kinderei!

Und ich will an das denken, was ich las, aber ich komme nicht dazu. Vom Waldrand her tönt die Trompete, ich muß mich beeilen, das Regiment naht. Rasch tu ich das Tagebuch wieder ins Kästchen und will es versperren. Ich drehe den Draht hin und her. Umsonst! Es läßt sich nicht mehr schließen, ich hab das Schloß verdorben – was tun?

Sie werden gleich da sein, die Jungen. Ich verstecke das offene Kästchen im Schlafsack und verlasse das Zelt. Es blieb mir nichts anderes übrig. Jetzt kommt das Regiment daher.

In der vierten Reihe marschiert der Z.

Du hast also ein Mädel und das nennt sich Eva. Und du weißt es, daß deine Liebe stiehlt. Aber du schwörst trotzdem, sie immer zu beschützen.

Ich muß wieder lächeln. Kinderei, elende Kinderei!

Jetzt hält das Regiment und tritt ab.

Jetzt kenne ich deine innersten Geheimnisse, denke ich, aber plötzlich kann ich nicht mehr lächeln. Denn ich sehe den Staatsanwalt. Er blättert in seinen Akten. Die Anklage lautet auf Diebstahl und Begünstigung. Nicht nur Eva, auch Adam hat sich zu verantworten. Man müßte den Z sofort verhaften.

Ich will es dem Feldwebel sagen und die Gendarmerie verständigen. Oder soll ich zuerst allein mit dem Z reden?

Nun steht er drüben bei den Kochtöpfen und erkundigt sich, was er zum Essen bekommen wird. Er wird von der Schule fliegen, und das Mädel kommt zurück in die Besserungsanstalt.

Beide werden eingesperrt.

Adieu Zukunft, lieber Z!

Es sind schon größere Herren über die Liebe gestolpert, über die Liebe, die auch naturnotwendig ist und also ebenfalls gottgewollt. Und ich höre wieder den Pfaffen: »Das Schrecklichste auf der Welt ist Gott.« Und ich höre einen wüsten Lärm, Geschrei und Gepolter. Alles stürzt zu einem Zelt.

Es ist das Zelt mit dem Kästchen. Der Z und der N raufen, man kann sie kaum trennen.

Der N ist rot, er blutet aus dem Mund.

Der Z ist weiß.

»Der N hat sein Kästchen erbrochen!« ruft mir der Feldwebel zu.

»Nein!« schreit der N. »Ich habs nicht getan, ich nicht!«

»Wer denn sonst?!« schreit der Z. »Sagen Sies selber, Herr Lehrer, wer könnt es denn sonst schon getan haben?!«

»Lüge, Lüge!«

»Er hat es erbrochen und sonst niemand! Er hats mir ja schon angedroht, daß er es mir zertrümmern wird!«

»Aber ich habs nicht getan!«

»Ruhe!« brüllt plötzlich der Feldwebel.

Es ist still.

Der Z läßt den N nicht aus den Augen.

Jeder, der sein Kästchen anrührt, stirbt, geht es mir plötzlich durch den Sinn.

Unwillkürlich blick ich empor.

Aber der Himmel ist sanft.

Ich fühle, der Z könnte den N umbringen.

Auch der N scheint es zu spüren. Er wendet sich kleinlaut an mich.

»Herr Lehrer, ich möcht in einem anderen Zelt schlafen. «

»Gut.«

»Ich habs wirklich nicht gelesen, sein Tagebuch. Helfen Sie mir, Herr Lehrer!«

»Ich werde dir helfen.« Jetzt sieht mich der Z an. Du kannst nicht helfen, liegt in seinem Blick.

Ich weiß, ich habe den N verurteilt.

Aber ich wollt es doch nur wissen, ob der Z mit den Räubern ging, und ich wollt ihn doch nicht leichtfertig in einen Verdacht bringen, drum hab ich das Kästchen erbrochen.

Warum sag ichs nur nicht, daß ich es bin, der das Tagebuch las?

Nein, nicht jetzt! Nicht hier vor allen! Aber ich werde es sagen. Sicher! Nur nicht vor allen, ich schäme mich! Allein werd ichs ihm sagen. Von Mann zu Mann! Und ich will auch mit dem Mädel reden, heut nacht, wenn er sie trifft. Ich werde ihr sagen, sie soll sich nur ja nimmer blicken lassen, und diesem dummen Z werde ich ordentlich seinen Kopf waschen – dabei solls dann bleiben! Schluß!

Wie ein Raubvogel zieht die Schuld ihre Kreise. Sie packt uns rasch.

Aber ich werde den N freisprechen.

Er hat ja auch nichts getan.

Und ich werde den Z begnadigen. Und auch das Mädel. Ich lasse mich nicht unschuldig verurteilen! Ja, Gott ist schrecklich, aber ich will ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Mit meinem freien Willen.

Einen dicken Strich.

Ich werde uns alle retten.

Und wie ich so überlege, fühle ich, daß mich wer anstarrt.

Es ist der T.

Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz.

Der Fisch! durchzuckt es mich.

Er sieht mich noch immer an, genau wie damals beim Begräbnis des kleinen W.

Er lächelt leise, überlegen, spöttisch.

Weiß er, daß ich es bin, der das Kästchen erbrach?

 

Der Mann im Mond

Der Tag wurde mir lang. Endlich sank die Sonne. Der Abend kam, und ich wartete auf die Nacht. Die Nacht kam, und ich schlich mich aus dem Lager. Der Feldwebel schnarchte bereits, es hat mich keiner gesehen. Zwar hing noch der Vollmond über dem Lager, aber aus dem Westen zogen die Wolken in finsteren Fetzen vorbei. Immer wieder wurde es stockdunkel und immer länger währte es, bis das silberne Licht wieder kam.

Dort, wo der Wald fast die Zelte berührt, dort wird er wachen, der Z. Dort saß ich nun hinter einem Baum. Ich sah ihn genau, den Posten.

Es war der G.

Er ging etwas auf und ab.

Droben rasten die Wolken, unten schien alles zu schlafen.

Droben tobte ein Orkan, unten rührte sich nichts.

Nur ab und zu knackte ein Ast.

Dann hielt der G und starrte in den Wald.

Ich sah ihm in die Augen, aber er konnte mich nicht sehen.

Hat er Angst?

Im Wald ist immer was los, besonders in der Nacht.

Die Zeit verging.

Jetzt kommt der Z.

Er grüßt den G, und der geht.

Der Z bleibt allein.

Er sieht sich vorsichtig um und blickt dann zum Mond empor.

Es gibt einen Mann im Mond, fällt es mir plötzlich ein, der sitzt auf der Sichel, raucht seine Pfeife und kümmert sich um nichts. Nur manchmal spuckt er auf uns herab. Vielleicht hat er recht.

Um zirka halb drei erschien endlich das Mädel, und zwar so lautlos, daß ich sie erst bemerkte, als sie bereits bei ihm stand.

Wo kam sie her?

Sie war einfach da.

Jetzt umarmt sie ihn, und er umarmt sie.

Sie küssen sich.

Das Mädel steht mit dem Rücken zu mir, und ich kann ihn nicht sehen. Sie muß größer sein als er –

Jetzt werde ich hingehen und mit den beiden sprechen. Ich erhebe mich vorsichtig, damit sie mich nicht hören. Denn sonst läuft mir das Mädel weg.

Und ich will doch auch mit ihr reden.

Sie küssen sich noch immer.

Es ist Unkraut und gehört vertilgt, geht es mir plötzlich durch den Sinn.

Ich sehe eine blinde Alte, die stolpert und stürzt.

Und immer muß ich an das Mädel denken, wie sie sich reckt und über die Hecke schaut.

Sie muß einen schönen Rücken haben.

Ihre Augen möchte ich sehen –

Da kommt eine Wolke und alles wird finster.

Sie ist nicht groß, die Wolke, denn sie hat einen silbernen Rand. Wie der Mond wieder scheint, gehe ich hin. Jetzt scheint er wieder, der Mond.

Das Mädel ist nackt.

Er kniet vor ihr.

Sie ist sehr weiß.

Ich warte.

Sie gefällt mir immer mehr.

Geh hin! Sag, daß du das Kästchen erbrochen hast! Du, nicht der N! Geh hin, geh!

Ich gehe nicht hin.

Jetzt sitzt er auf einem Baumstamm, und sie sitzt auf seinen Knien.

Sie hat herrliche Beine.

Geh hin!

Ja, sofort –

Und es kommen neue Wolken, schwärzere, größere. Sie haben keine silbernen Ränder und decken die Erde zu. Der Himmel ist weg, ich sehe nichts mehr.

Ich lausche, aber es gehen nur Schritte durch den Wald. Ich halte den Atem an.

Wer geht?

Oder ist es nur der Sturm von droben?

Ich kann mich selber nicht mehr sehen.

Wo seid ihr, Adam und Eva?

Im Schweiße eueres Angesichtes solltet ihr euer Brot verdienen, aber es fällt euch nicht ein. Eva stiehlt einen photographischen Apparat, und Adam drückt beide Augen zu, statt zu wachen –.

Ich werd es ihm morgen sagen, diesem Z, morgen in aller Frühe, daß ich es war, der sein Kästchen erbrach. Morgen laß ich mich durch nichts mehr hindern!

Und wenn mir der liebe Gott tausend nackte Mädchen schickt! –

Immer stärker wird die Nacht.

Sie hält mich fest, finster und still.

Jetzt will ich zurück.

Vorsichtig taste ich vor –

Mit der vorgestreckten Hand berühre ich einen Baum. Ich weiche ihm aus.

Ich taste weiter – da, ich zucke entsetzt zurück!

Was war das?!

Mein Herz steht still.

Ich möchte rufen, laut, laut – aber ich beherrsche mich.

Was war das?!

Nein, das war kein Baum!

Mit der vorgestreckten Hand faßte ich in ein Gesicht. Ich zittere.

Wer steht da vor mir?

Ich wage nicht mehr, weiterzugehen.

Wer ist das?!

Oder habe ich mich getäuscht?

Nein, ich hab es zu deutlich gefühlt: die Nase, die Lippen –

Ich setze mich auf die Erde.

Ist das Gesicht noch dort drüben?

Warte, bis das Licht kommt!

Rühre dich nicht! –

Über den Wolken raucht der Mann im Mond.

Es regnet leise.

Spuck mich nur an, Mann im Mond!

 

Der vorletzte Tag

Endlich wird es grau, der Morgen ist da.

Es ist niemand vor mir, kein Gesicht und nichts.

Ich schleiche mich wieder ins Lager zurück. Der Feldwebel liegt auf dem Rücken mit offenem Mund. Der Regen klopft an die Wand. Erst jetzt bin ich müde. Schlafen, schlafen –

Als ich erwache, ist das Regiment bereits fort. Ich werde es dem Z sagen, daß ich es war und nicht der N, sowie er zurückkommt.

Es ist der vorletzte Tag.

Morgen brechen wir unsere Zelte ab und fahren in die Stadt zurück.

Es regnet in Strömen, nur manchmal hört es auf. In den Tälern liegen dicke Nebel. Wir sollten die Berge nimmer sehen.

Mittags kommt das Regiment zurück, aber nicht komplett.

Der N fehlt.

Er dürfte sich verlaufen haben, meint der Feldwebel, und er würde uns schon finden.

Ich muß an die Höhlen denken, die im Tagebuch des Z stehen, und werde unsicher.

Ist es Angst?

Jetzt muß ichs ihm aber sogleich sagen, es wird allmählich höchste Zeit!

Der Z sitzt in seinem Zelte und schreibt.

Er ist allein.

Als er mich kommen sieht, klappt er rasch sein Tagebuch zu und blickt mich mißtrauisch an.

»Ach, wir schreiben wieder unser Tagebuch«, sage ich und versuche zu lächeln. Er schweigt und blickt mich nur an. Da sehe ich, daß seine Hände zerkratzt sind.

Er bemerkt, daß ich die Kratzer beobachte, zuckt etwas zusammen und steckt die Hände in die Taschen.

»Frierts dich?« frage ich und lasse ihn nicht aus den Augen.

Er schweigt noch immer, nickt nur ja, und ein spöttisches Lächeln huscht über sein Gesicht.

»Hör mal«, beginne ich langsam, »du meinst, daß der N dein Kästchen erbrochen hat –«

»Ich meine es nicht nur«, fällt er mir plötzlich fest ins Wort, »sondern er hats auch getan.«

»Woher willst du denn das wissen?«

»Er selbst hat es mir gesagt.«

Ich starre ihn an. Er selbst hat es gesagt?

Aber das ist doch unmöglich, er hat es doch gar nicht getan!

Der Z blickt mich forschend an, doch nur einen Augenblick lang. Dann fährt er fort: »Er hats mir heut vormittag gestanden, daß er das Kästchen geöffnet hat. Mit einem Draht, aber dann könnt er es nicht wieder schließen, denn er hat das Schloß ruiniert.«

»Und?«

»Und er hat mich um Verzeihung gebeten, und ich habe ihm verziehen.«

»Verziehen?«

»Ja.«

Er blickt gleichgültig vor sich hin. Ich kenne mich nicht mehr aus, und es fällt mir wieder ein: »Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!«

Unsinn, Unsinn!

»Weißt du, wo der N jetzt steckt?« frage ich plötzlich. Er bleibt ganz ruhig.

»Woher soll ich das wissen? Sicher hat er sich verirrt. Ich hab mich auch schon mal verirrt« – er erhebt sich, und es macht den Eindruck, als würde er nicht mehr weiterreden wollen.

Da bemerke ich, daß sein Rock zerrissen ist.

Soll ich es ihm sagen, daß er lügt? Daß der N es ihm niemals gestanden haben konnte, denn ich, ich habe doch sein Tagebuch gelesen –

Aber warum lügt der Z?

Nein, ich darf gar nicht daran denken! –

Warum sagte ich es ihm nur nicht sofort, gleich gestern, als er den N verprügelte! Weil ich mich schämte, vor meinen Herren Schülern zu gestehen, daß ich heimlich mit einem Draht ein Kästchen erbrochen hab, obwohl dies in bester Absicht geschehen ist – verständlich, verständlich! Aber warum verschlief ich nur heute früh?! Richtig, ich saß ja in der Nacht im Wald und machte das Maul nicht auf! Und jetzt, jetzt dürfte es wenig nützen, wenn ich es aufmachen würde. Es ist zu spät.

Richtig, auch ich bin schuld.

Auch ich bin der Stein, über den er stolperte, die Grube, in die er fiel, der Felsen, von dem er hinunterstürzte – Warum hat mich heut früh nur niemand geweckt?! Ich wollte mich nicht unschuldig verurteilen lassen und schlief, statt mich zu verteidigen. Mit meinem freien Willen wollte ich einen dicken Strich durch eine Rechnung machen, aber diese Rechnung war bereits längst bezahlt.

Ich wollte uns alle retten, aber wir waren bereits ertrunken.

In dem ewigen Meer der Schuld. Doch wer ist denn schuld, daß das Schloß verdarb.

Daß es sich nicht mehr zusperren ließ?

Egal ob offen oder zu, ich hätte es sagen müssen! Die Pfade der Schuld berühren sich, kreuzen, verwickeln sich.

Ein Labyrinth. Ein Irrgarten – mit Zerrspiegeln. Jahrmarkt, Jahrmarkt!

Hereinspaziert, meine Herrschaften!

Zahlt Buße und Strafe für die Schuld eueres Daseins! Nur keine Angst, es ist zu spät! – Am Nachmittag zogen wir alle aus, um den N zu finden. Wir durchsuchten das ganze Gebiet, riefen »N!« und wieder »N!«, aber es kam keine Antwort. Ich erwartete auch keine.

Es dämmerte bereits, als wir zurückkehrten. Durchnäßt, durchfroren.

»Wenn das so weiterregnet«, flucht der Feldwebel, »gibts noch die schönste Sündflut!«

Und es fiel mir wieder ein: als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wichen, sprach der Herr: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde bestrafen um der Menschen willen.«

Und wieder frage ich mich: hat der Herr sein Versprechen gehalten? Es regnet immer stärker.

»Wir müssens der Gendarmerie melden«, sagt der Feldwebel, »daß der N abgängig ist.«

»Morgen.«

»Ich versteh Sie nicht, Herr Lehrer, daß Sie so ruhig sind.«

»Ich denke, er wird sich verirrt haben, man verirrt sich ja leicht, und vielleicht übernachtet er auf irgendeinem Bauernhof.«

»In der Gegend dort gibts keine Höfe, nur Höhlen.«

Ich horche auf. Das Wort versetzt mir wieder einen Schlag.

»Wollen es hoffen«, fährt der Feldwebel fort, »daß er in einer Höhle sitzt und daß er sich nichts gebrochen hat.«

Ja, wollen wir hoffen. –

Plötzlich frage ich den Feldwebel: »Warum haben Sie mich heute früh nicht geweckt?«

»Nicht geweckt?« Er lacht. »Ich hab Sie in einer Tour geweckt, aber Sie sind ja dagelegen, als hätt Sie der Teufel geholt!«

Richtig, Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.

 

Der letzte Tag

Am letzten Tage unseres Lagerlebens kam Gott.

Ich erwartete ihn bereits.

Der Feldwebel und die Jungen zerlegten gerade die Zelte, als er kam.

Sein Erscheinen war furchtbar. Dem Feldwebel wurde es übel, und er mußte sich setzen. Die Jungen standen entsetzt herum, halb gelähmt. Erst allmählich bewegten sie sich wieder, und zwar immer aufgeregter.

Nur der Z bewegte sich kaum.

Er starrte zu Boden und ging auf und ab. Doch nur ein paar Meter. Immer hin und her.

Dann schrie alles durcheinander, so schien es mir.

Nur der Z blieb stumm.

Was war geschehen?

Zwei Waldarbeiter waren im Lager erschienen, zwei Holzfäller mit Rucksack, Säge und Axt. Sie berichteten, daß sie einen Jungen gefunden hätten. Sie hatten seinen Schulausweis bei sich.

Es war der N.

Er lag in der Nähe der Höhlen in einem Graben, unweit der Lichtung. Mit einer klaffenden Kopfwunde. Ein Stein mußte ihn getroffen haben oder ein Schlag mit irgendeinem stumpfen Gegenstande.

Auf alle Fälle war er hin. Tot und tot.

Man hat ihn erschlagen, sagten die Waldarbeiter. Ich stieg mit den Waldarbeitern ins Dorf hinab. Zur Gendarmerie. Wir liefen fast. Gott blieb zurück. Die Gendarmen telephonierten mit dem Staatsanwalt in der nächsten Stadt, und ich telegraphierte meinem Direktor. Die Mordkommission erschien und begab sich an den Ort der Tat.

Dort lag der N im Graben.

Er lag auf dem Bauche.

Jetzt wurde er photographiert.

Die Herren suchten die nähere Umgebung ab. Peinlich genau. Sie suchten das Mordinstrument und irgendwelche Spuren.

Sie fanden, daß der N nicht in jenem Graben erschlagen wurde, sondern ungefähr zwanzig Meter entfernt davon. Man sah deutlich die Spur, wie er in den Graben geschleift worden war, damit ihn niemand finde. Und sie fanden auch das Mordinstrument. Einen blutbefleckten spitzigen Stein. Auch einen Bleistift fanden sie und einen Kompaß.

Der Arzt konstatierte, daß der Stein mit großer Wucht aus nächster Nähe den Kopf des N getroffen haben mußte. Und zwar meuchlings, von rückwärts.

Befand sich der N auf der Flucht?

Der Untat mußte nämlich ein heftiger Kampf vorangegangen sein, denn sein Rock war zerrissen. Und seine Hände zerkratzt. –

Als die Mordkommission das Lager betrat, erblickte ich sogleich den Z. Er saß etwas abseits. Auch sein Rock ist zerrissen, ging es mir durch den Sinn, und auch seine Hände sind zerkratzt.

Aber ich werde mich hüten, davon zu reden! Mein Rock hat zwar keinen Riß und meine Hände sind ohne Kratzer, aber trotzdem bin auch ich daran schuld! –

Die Herren verhörten uns.

Wir wußten alle nichts über den Hergang des Verbrechens.

Als der Staatsanwalt mich fragte: »Haben Sie keinen Verdacht?« – da sah ich wieder Gott. Er trat aus dem Zelte, wo der Z schlief, und hatte das Tagebuch in der Hand.

Jetzt sprach er mit dem R und ließ den Z nicht aus den Augen.

Der kleine R schien Gott nicht zu sehen, nur zu hören. Immer größer wurden seine Augen, als blickte er plötzlich in neues Land.

Da höre ich wieder den Staatsanwalt: »So reden Sie doch! Haben Sie keinen Verdacht?«

»Nein.«

»Herr Staatsanwalt«, schreit plötzlich der R und drängt sich vor, »der Z und der N haben sich immer gerauft! Der N hat nämlich das Tagebuch des Z gelesen, und deshalb war ihm der Z todfeind – er führt nämlich ein Tagebuch, es liegt m einem Kästchen aus blauem Blech!« Alle blicken auf den Z.

Der steht mit gesenktem Haupt. Man kann sein Gesicht nicht sehen. Ist es weiß oder rot? Langsam tritt er vor. Er hält vor dem Staatsanwalt.

Es wird sehr still.

»Ja«, sagt er leise, »ich habs getan.«

Er weint.

Ich werfe einen Blick auf Gott.

Er lächelt.

Warum?

Und wie ich mich so frage, sehe ich ihn nicht mehr.

Er ist wieder fort.

Die Mitarbeiter

Morgen beginnt der Prozeß.

Ich sitze auf der Terrasse eines Cafés und lese die Zeitungen. Der Abend ist kühl, denn es ist Herbst geworden.

Schon seit vielen Tagen berichten die Zeitungen über die kommende Sensation. Einzelne unter der Überschrift Mordprozeß Z, andere unter Mordprozeß N. Sie bringen Betrachtungen, Skizzen, graben alte Kriminalfälle mit Jugendlichen im Mittelpunkt aus, sprechen über die Jugend überhaupt und an sich, prophezeien und kommen vom Hundertsten ins Tausendste, finden aber dennoch immer irgendwie zurück zum Ermordeten N und seinem Mörder Z.

Heute früh erschien ein Mitarbeiter bei mir und interviewte mich. Im Abendblatt muß es schon drinnen sein. Ich suche das Blatt. Er hat mich sogar photographiert. Ja, da ist mein Bild! Hm, ich hätt mich kaum wiedererkannt. Eigentlich ganz nett. Und unter dem Bilde steht: »Was sagt der Lehrer?«

Nun, was sage ich?

»Einer unserer Mitarbeiter besuchte heute vormittag im städtischen Gymnasium jenen Lehrer, der seinerzeit im Frühjahr die oberste Aufsicht über jenes Zeltlager innehatte, allwo sich die verhängnisvolle Tragödie unter Jugendlichen abrollen sollte. Der Lehrer sagte, er stehe vor einem Rätsel, und zwar nach wie vor. Der Z sei immer ein aufgeweckter Schüler gewesen, und ihm, dem Lehrer, wären niemals irgendwelche charakterliche Anomalitäten, geschweige denn Defekte oder verbrecherische Instinkte aufgefallen. Unser Mitarbeiter legte dem Lehrer die folgenschwere Frage vor, ob diese Untat ihre Wurzel etwa in einer gewissen Verrohung der Jugend hätte, was jedoch der Lehrer strikt bestritt. Die heutige Jugend, meinte er, sei keineswegs verroht, sie sei vielmehr, dank der allgemeinen Gesundung, äußerst pflichtbewußt, aufopferungsfreudig und absolut national. Dieser Mord sei ein tiefbedauerlicher Einzelfall, ein Rückfall in schlimmste liberalistische Zeiten. Jetzt läutet die Schulglocke, die Pause ist aus, und der Lehrer empfiehlt sich. Er schreitet in die Klasse, um junge aufgeschlossene Seelen zu wertvollen Volksgenossen auszubilden. Gottlob ist der Fall Z nur ein Ausnahmefall, der ausnahmsweise Durchbruch eines verbrecherischen Individualismus!«

Hinter meinem Interview folgt eines mit dem Feldwebel. Auch sein Bild ist in der Zeitung, aber so hat er mal ausgesehen, vor dreißig Jahren. Ein eitler Kopf.

Nun, was sagt der Feldwebel? »Unser Mitarbeiter besuchte auch den seinerzeitigen militärischen Ausbildungsleiter. Der militärische Ausbildungsleiter, kurz MA genannt, empfing unseren Mitarbeiter mit ausgesuchter Höflichkeit, doch in der strammen Haltung des alten, immer noch frischen Haudegens. Seiner Ansicht nach entspringt die Tat einem Mangel an Disziplin. Eingehend äußerte er sich über den Zustand des Leichnams des Ermordeten anläßlich dessen Auffindung. Er hatte den ganzen Weltkrieg mitgemacht, jedoch niemals eine derart grauenhafte Wunde gesehen. ›Als alter Soldat bin ich für den Frieden‹ schloß sein aufschlußreiches Gespräch.«

»Unser Mitarbeiter besuchte auch die Präsidentin des Verbandes gegen die Kinderverwahrlosung, die Frau Rauchfangkehrermeister K. Die Präsidentin bedauert den Fall aus tiefstem Inneren heraus. Sie kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen, visionäre Träume quälen die verdienstvolle Frau. Ihrer Meinung nach wäre es höchste Zeit, daß die maßgebenden Faktoren endlich bessere Besserungsanstalten bauten angesichts der sozialen Not.«

Ich blättere weiter. Ach, wer ist denn das? Richtig, das ist ja der Bäckermeister N, der Vater des Toten! Und auch seine Gattin ist abgebildet, Frau Elisabeth N, geborene S.

»Ihre Frage«, sagt der Bäckermeister zum Mitarbeiter, »will ich gerne beantworten. Das unbestechliche Gericht wird es herauszufinden haben, ob unser ärmster Otto nicht doch nur das Opfer eines sträflichen Leichtsinns der Aufsichtsstelle geworden ist, ich denke jetzt ausschließlich an den Lehrer und keineswegs an den MA. Justitia fundamentum regnorum. Überhaupt müßte eine richtige Durchsiebung des Lehrpersonals erfolgen, es wimmelt noch vor lauter getarnten Staatsfeinden. Bei Philippi sehen wir uns wieder!«

Und die Frau Bäckermeister meint: »Ottochen war meine Sonne. Jetzt hab ich halt nur mehr meinen Gatten. Aber Ottochen und ich, wir stehen immer in einem geistigen Kontakt. Ich bin in einem spiritistischen Zirkel.«

Ich lese weiter.

In einer anderen Zeitung steht: »Die Mutter des Mörders wohnt in einer Dreizimmerwohnung. Sie ist die Witwe des Universitätsprofessors Z, der vor zirka zehn Jahren starb. Professor Z war ein angesehener Physiologe. Seine Studien über die Reaktion der Nerven anläßlich von Amputationen erregten nicht nur in Fachkreisen Aufsehen. Vor zirka zwanzig Jahren bildete er einige Zeit hindurch das Hauptangriffsziel des Vereins gegen Vivisektion. Frau Professor Z verweigert uns leider jede Aussage. Sie sagt nur: ›Meine Herren, können Sie es sich denn nicht denken, was ich durchzumachen habe?‹ Sie ist eine mittelgroße Dame. Sie trug Trauer.«

Und in einer anderen Zeitung entdeckte ich den Verteidiger des Angeklagten. Er hat auch mit mir schon dreimal gesprochen und scheint Feuer und Flamme für den Fall zu sein.

Ein junger Anwalt, der ganz genau weiß, was für ihn auf dem Spiele steht.

Alle Mitarbeiter blicken auf ihn.

Es ist ein langes Interview.

»In diesem sensationellen Mordprozeß, meine Herren«, beginnt der Verteidiger sein Interview, »befindet sich die Verteidigung in einer prekären Situation. Sie hat nämlich ihre Klinge nicht nur gegen die Staatsanwaltschaft, sondern auch gegen den Angeklagten, den sie ja verteidigen muß, zu führen.«

»Wieso?«

»Der Angeklagte, meine Herren, bekennt sich eines Verbrechens wider die Person schuldig. Es ist Totschlag und nicht Mord, wie ich ganz besonders zu vermerken bitte. Aber trotz des Geständnisses des jugendlichen Angeklagten bin ich felsenfest davon überzeugt, daß er nicht der Täter ist. Meiner Überzeugung nach deckt er jemanden.«

»Sie wollen doch nicht behaupten, Herr Doktor, daß jemand anderer die Tat beging?«

»Doch, meine Herren, das will ich sogar sehr behaupten! Abgesehen davon, daß mir dies auch ein undefinierbares Gefühl sagt, gewissermaßen der Jagdinstinkt des Kriminalisten, habe ich auch bestimmte Gründe für meine Behauptung. Er war es nicht! Überlegen Sie sich doch mal die Motive der Tat! Er erschlägt seinen Mitschüler, weil dieser sein Tagebuch las. Aber was stand denn in dem Tagebuch? Doch hauptsächlich die Affäre mit jenem verkommenen Mädchen. Er schützt das Mädchen und verkündet unüberlegt: ›Jeder, der mein Tagebuch anrührt, stirbt!‹ – gewiß, gewiß! Es spricht alles gegen ihn und doch auch wieder nicht alles. Abgesehen davon, daß die ganze Art und Weise seines Geständnisses einer ritterlichen Haltung nicht ganz entbehrt, ist es denn nicht auffallend, daß er über den eigentlichen Totschlag nicht spricht? Kein Wörtchen über den Hergang der Tat! Warum erzählt er sie uns nicht? Er sagt, er erinnere sich nicht mehr. Falsch! Er könnte sich nämlich gar nicht erinnern, denn er weiß es ja nicht, wie, wo und wann sein bedauernswerter Mitschüler erschlagen wurde. Er weiß nur, es geschah mit einem Stein. Man zeigt ihm Steine, er kann sich nicht mehr erinnern. Meine Herren, er deckt die Tat eines anderen!«

»Aber der zerrissene Rock und die Kratzer an den Händen?«

»Gewiß, er hat den N auf einem Felsen getroffen und hat mit ihm gerauft, das erzählt er uns ja auch mit allen Einzelheiten. Aber daß er ihm dann nachgeschlichen ist und hinterrücks mit einem Stein – nein-nein! Den N erschlug ein anderer, oder vielmehr: eine andere!«

»Sie meinen jenes Mädchen?«

»Jawohl, die meine ich! Sie beherrschte ihn, sie beherrscht ihn noch immer. Er ist ihr hörig. Meine Herren, wir werden auch die Psychiater vernehmen!«

»Ist das Mädchen als Zeugin geladen?«

»Natürlich! Sie wurde kurz nach dem Morde in einer Höhle verhaftet und ist bereits längst abgeurteilt, samt ihrer Bande. Wir werden Eva sehen und hören, vielleicht schon morgen.«

»Wie lange wird der Prozeß dauern?«

»Ich rechne mit zwei bis drei Tagen. Es sind zwar nicht viele Zeugen geladen, aber, wie gesagt, ich werde mit dem Angeklagten scharf kämpfen müssen. Hart auf hart! Ich fechte es durch! Er wird wegen Diebstahlsbegünstigung verurteilt werden – das ist alles!«

Ja, das ist alles.

Von Gott spricht keiner.

 

Mordprozeß Z oder N

Vor dem Justizpalast standen dreihundert Menschen. Sie wollten alle hinein, doch das Tor war zu, denn die Einlaßkarten waren bereits seit Wochen vergeben. Meist durch Protektion, aber nun wurde streng kontrolliert.

In den Korridoren kam man kaum durch.

Alle wollten den Z sehen.

Besonders die Damenwelt.

Vernachlässigt und elegant, waren sie geil auf Katastrophen, von denen sie kein Kind bekommen konnten.

Sie lagen mit dem Unglück anderer Leute im Bett und befriedigten sich mit einem künstlichen Mitleid.

Die Pressetribüne war überfüllt.

Als Zeugen wurden unter anderen vorgeladen: die Eltern des N, die Mutter des Z, der Feldwebel, der R, der mit Z und N das Zelt geteilt hatte, die beiden Waldarbeiter, welche die Leiche des Ermordeten gefunden hatten, der Untersuchungsrichter, die Gendarmen, usw. usw.

Und natürlich auch ich.

Und natürlich auch Eva.

Aber die war noch nicht im Saal. Sie sollte erst vorgeführt werden.

Der Staatsanwalt und der Verteidiger blättern in den Akten.

Jetzt sitzt Eva in einer Einzelzelle und wartet, daß sie drankommt.

Der Angeklagte erscheint. Ein Wachmann begleitet ihn.

Er sieht aus wie immer. Nur bleicher ist er geworden, und mit den Augen zwinkert er. Es stört ihn das Licht. Sein Scheitel ist noch in Ordnung.

Er setzt sich auf die Angeklagtenbank, als wärs eine Schulbank.

Alle sehen ihn an.

Er blickt kurz hin und erblickt seine Mutter.

Er starrt sie an – was rührt sich in ihm?

Scheinbar nichts.

Seine Mutter schaut ihn kaum an.

Oder scheint es nur so?

Denn sie ist dicht verschleiert – schwarz und schwarz, kein Gesicht.

Der Feldwebel begrüßt mich und erkundigt sich, ob ich sein Interview gelesen hätte. Ich sage »ja«, und der Bäckermeister N horcht auf meine Stimme hin gehässig auf.

Er könnt mich wahrscheinlich erschlagen.

Mit einer altbackenen Semmel.

 

Schleier

Der Präsident des Jugendgerichtshofes betritt den Saal, und alles erhebt sich. Er setzt sich und eröffnet die Verhandlung.

Ein freundlicher Großpapa.

Die Anklageschrift wird verlesen.

Z wird nicht des Totschlags, sondern des Mordes angeklagt, und zwar des meuchlerischen.

Der Großpapa nickt, als würde er sagen: »Oh, diese Kinder!«

Dann wendet er sich dem Angeklagten zu.

Z erhebt sich.

Er gibt seine Personalien an und ist nicht befangen.

Nun soll er in freier Rede sein Leben erzählen. Er wirft einen scheuen Blick auf seine Mutter und wird befangen.

Es wäre so gewesen wie bei allen Kindern, fängt er dann leise an. Seine Eltern wären nicht besonders streng gewesen, wie eben alle Eltern. Sein Vater sei schon sehr bald gestorben.

Er ist das einzige Kind.

Die Mutter führt ihr Taschentuch an die Augen, aber oberhalb des Schleiers.

Ihr Sohn erzählt, was er werden wollte – ja, er wollte mal ein großer Erfinder werden. Aber er wollte nur Kleinigkeiten erfinden, wie zum Beispiel: einen neuartigen Reißverschluß.

»Sehr vernünftig«, nickte der Präsident. »Aber wenn du nichts erfunden hättest?«

»Dann wäre ich Flieger geworden. Postflieger. Am liebsten nach Übersee.«

Zu den Negern? muß ich unwillkürlich denken.

Und wie der Z so von seiner ehemaligen Zukunft spricht, rückt die Zeit immer näher und näher – bald wird er da sein, der Tag, an dem der liebe Gott kam.

Der Z schildert das Lagerleben, das Schießen, Marschieren, das Hissen der Flagge, den Feldwebel und mich. Und er sagt einen sonderbaren Satz: »Die Ansichten des Herrn Lehrers waren mir oft zu jung.«

Der Präsident staunt.

»Wieso?«

»Weil der Herr Lehrer immer nur sagte, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.«

Der Präsident sieht den Z groß an. Fühlt er, daß nun ein Gebiet betreten wurde, wo das Radio regiert? Wo die Sehnsucht nach der Moral zum alten Eisen geworfen wird, während man vor der Brutalität der Wirklichkeit im Staube liegt? Ja, er scheint es zu fühlen, denn er sucht nach einer günstigen Gelegenheit, um die Erde verlassen zu können. Plötzlich fragt er den Z: »Glaubst du an Gott?«

»Ja«, sagt der Z, ohne zu überlegen.

»Und kennst du das fünfte Gebot?«

»Ja.«

»Bereust du deine Tat?«

Es wird sehr still im Saal.

»Ja«, meint der Z, »ich bereue sie sehr.«

Sie klang aber unecht, die Reue.

Das Verhör wandte sich dem Mordtag zu.

Die Einzelheiten, die bereits jeder kannte, wurden abermals durchgekaut.

»Wir sind sehr früh fortmarschiert«, erzählt der Z zum hundertstenmal, »und sind dann bald in einer Schwarmlinie durch das Dickicht gegen einen Höhenzug vorgerückt, der von dem markierten Feinde gehalten wurde. In der Nähe der Höhlen traf ich zufällig den N. Es war auf einem Felsen. Ich hatte eine riesige Wut auf den N, weil er mein Kästchen erbrochen hat. Er hat es zwar geleugnet –«

»Halt!« unterbricht ihn der Präsident. »Der Herr Lehrer hat es hier in den Akten vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gegeben, daß du ihm gesagt hättest, der N hätte es dir gestanden, daß er das Kästchen erbrochen hat.«

»Das hab ich nur so gesagt.«

»Warum?«

»Damit kein Verdacht auf mich fällt, wenn es herauskommt.«

»Aha. Weiter!«

»Wir gerieten also ins Raufen, ich und der N, und er warf mich dabei fast den Felsen hinab – da wurde es mir rot vor den Augen, und ich sprang wieder empor und warf ihm den Stein hinauf.«

»Auf dem Felsen?«

»Nein.«

»Sondern wo?«

»Das hab ich vergessen.«

Er lächelt.

Es ist nichts aus ihm herauszubekommen.

Er erinnert sich nicht mehr.

»Und wo setzt sie wieder ein, deine Erinnerung?«

»Ich ging ins Lager zurück und schrieb es in mein Tagebuch hinein, daß ich mit dem N gerauft habe.«