Der einsame Schlittschuhläufer
Am nächsten Morgen frühstückten die drei Männer gemeinsam. Der Tag war noch schöner als der vorige. Es hatte nachts nicht geschneit. Die Luft war frostklar. Die Sonne malte tiefblaue Schatten in den Schnee. Und der Oberkellner teilte mit, dass soeben vom Wolkenstein herrlichste Fernsicht gemeldet worden sei. Die Gäste wimmelten im Frühstückssaal wie ein Nomadenstamm, der zur Völkerwanderung aufbricht.
«Was unternimmt man heute?» fragte Schulze. Dann holte er, mit gespielter Umständlichkeit, eine Zigarre hervor, zündete sie an und musterte, über das brennende Streichholz hinweg, den edlen Spender.
Johann wurde rot. Er griff in die Tasche und legte drei Billetts auf den Tisch. «Wenn es Ihnen recht ist», sagte er, «fahren wir mit der Drahtseilbahn auf den Wolkenstein. Ich habe mir erlaubt, Fahr- und Platzkarten zu besorgen. Der Andrang ist sehr groß. In einer halben Stunde sind wir dran. Allein möchte ich nicht fahren. Haben Sie Lust mitzukommen? Mittags muss ich allerdings wieder zurück. Wegen der zweiten Skistunde.»
Dreißig Minuten später schwebten sie in einem rhombischen Kasten, der fünfzehn Personen fasste, über den waldigen Hügeln, die dem Wolkenstein vorgelagert sind, und fuhren in einem ziemlich steilen Winkel in den Himmel empor.
So oft sie einen der betonierten Riesenmasten passierten, schwankte der Kasten bedenklich, und einige der eleganten Sportsleute wurden unter der braunen Gesichtsfarbe blaß.
Die Landschaft, auf die man hinunterblickte, wurde immer gewagter. Und der Horizont wich immer weiter zurück. Die Abgründe vertieften sich. Die Baumgrenze wurde überquert. Sturzbäche fielen an schroffen Felswänden hinab ins Ungewisse.
Im Schnee sah man Wildspuren.
Endlich, nach dem siebenten Pfeiler, waren die Abgründe überwunden. Die Erde kam wieder näher. Die Landschaft nahm, auf einer höheren Ebene, wieder gemäßigte Formen an. Und die sonnenüberglänzten, weißen Hänge wimmelten von Skifahrern.
«Es sieht aus wie weißer Musselin mit schwarzen Tupfen», sagte eine Frau. Die meisten Fahrgäste lachten. Aber sie hatte recht.
Kurz darauf gab es einen letzten herzhaften Ruck, und die Endstation, zwölfhundert Meter über Bruckbeuren, war erreicht. Die Passagiere stolperten, von der Fahrt und der dünnen Luft benommen, ins Freie, bemächtigten sich ihrer Schneeschuhe, schulterten sie und kletterten zum Berghotel Wolkenstein hinauf, um von dort aus eine der gepriesenen fünfundvierzig Abfahrten in Angriff zu nehmen.
Wohin man sah zogen Schneeschuhkarawanen. Noch an den fernsten Steilhängen sausten winzige Skirudel zu Tale. Vor den Veranden des Hotels standen Touristen in Scharen und bohnerten ihre Bretteln; denn hier oben hatte es nachts Neuschnee gegeben.
Nur auf der großen hölzernen Sonnenterrasse ging es friedlich zu. Hier gab es lange Reihen von Liegestühlen. Und in diesen Liegestühlen schmorten eingeölte Gesichter und Unterarme.
«Fünfzehn Grad unter Null», sagte das eine Gesicht. «Und trotzdem kriegt man den Sonnenstich.»
«Tun Sie, was Sie nicht lassen können», erklärte ein anderes krebsrotes Gesicht.
Schulze hielt seine Begleiter fest. «Meine Herren», meinte er, «jetzt kaufen wir uns ein Fläschchen Nußöl, salben alles, was aus dem Anzug herausguckt und pflanzen uns hin.»
Hagedorn verschwand im Haus und besorgte Öl. Kesselhuth und Schulze annektierten drei Liegestühle. Dann fetteten sie sich ein und ließen sich rösten.
«Der reinste Grillroom», behauptete Schulze.
Wenn man die Augen halb Öffnete, erblickte man unabsehbare Gipfelketten, in vielen Zackenreihen hintereinander geschichtet, und dort, wo sie mit dem Firmament zusammenstießen, blitzte, durch die gesenkten Wimpern, ein eisiges Feuerwerk aus Gletschern und Sonne.
Eine Stunde hielten sie das Gebraten werden aus, dann erhoben sie sich. Sie lobten wechselseitig ihre Hautfarbe, tranken Limonade und ergingen sich.
Kesselhuth ließ sich von einem steinalten Fernrohrbesitzer die bekanntesten Berge zeigen und ruhte nicht, bis er Gemsen gesehen hatte. Es konnte auch ein Irrtum gewesen sein.
Die unermüdliche Drahtseilbahn spie immer neue Skifahrer aus. Die schmalen, von hohen Schneemauern eingesäumten Wege waren belebter als die Straßen der Weltstädte. Und nachdem es einer schicken jungen Dame, die ihre Schneeschuhe geschultert trug, mit Hilfe einer unbedachten Wendung gelungen war, Herrn Schulze die Pudelmütze vom Kopf zu schlagen, gaben sie die Wanderung durch die Stille der Natur auf. Der Verkehr war lebensgefährlich.
Als sie in den Wagen der Drahtseilbahn steigen wollten, stießen sie mit Frau Casparius zusammen. Sie war eben angekommen. Der dicke Herr Lenz schleppte seine und ihre Schneeschuhe und dampfte.
Die Bremer Blondine trat zu Hagedorn und brachte ihren schwungvollen Jumper zur Geltung. «Sie kommen doch heute abend zu dem Kostümfest?» sagte sie. Dann nickte sie und stiefelte betont burschikos bergan.
*
Nach dem Mittagessen wurde Kesselhuth feierlich vom Graswander Toni abgeholt.
«Bittschön», sagte der Toni. «Es ist wegen der Regelmäßigkeit. Gehn wir!»
Johann nickte, trank einen Schluck Kaffee und zog an seiner Zigarre.
«Sie sollten über Tag nicht rauchen», erklärte der Toni. «Das ist unsportlich, bittschön.»
Kesselhuth legte folgsam die Zigarre beiseite und stand auf.
«Please, Sir», sagte der Toni und trollte sich.
Herr Kesselhuth verabschiedete sich traurig und trabte hinter dem Skilehrer her.
«Als ob er zur Schlachtbank geführt würde», meinte Hagedorn. «Aber der Skianzug ist fabelhaft!»
«Kein Wunder», sagte Schulze stolz. «Er ist ja auch bei meinem Schneider gearbeitet worden.»
Hagedorn lachte herzlich und fand die Bemerkung großartig.
Geheimrat Tobler war froh, dass seine unbedachte Äußerung als Witz aufgenommen worden war, und lachte, allerdings ein bisschen krampfhaft, mit. Dann blieb er jedoch nicht mehr lange sitzen und sagte: «Mahlzeit! Jetzt geht Papa Schlittschuh laufen.»
«Darf ich mitkommen?»
Schulze hob abwehrend die Hand. «Lieber nicht! Sollte sich wider Erwarten herausstellen, dass ich es überhaupt noch kann, führe ich morgen vor geladenem Publikum etliche Eistänze vor. Das mag Ihnen zum Trost gereichen.»
Der junge Mann wünschte Hals- und Beinbruch und zog sich ins Schreibzimmer zurück, um seiner Mutter einen ausführlichen Brief zu schreiben.
Herr Schulze holte seine Schlittschuhe aus der fünften Etage und begab sich zur Eisbahn. Er hatte Glück, er war der einzige Fahrgast. Mühsam schnallte er die rostigen Schlittschuhe an die schweren rindsledernen Stiefel. Dann stellte er sich auf die blitzblanke Fläche und wagte die ersten Schritte.
Es ging.
Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und lief, noch etwas zaudernd, einmal rund um die Bahn. Dann blieb er aufatmend stehen und freute sich. Man war eben doch ein verfluchter Kerl!
Nun wurde er wagemutiger. Er begann Bogen zu fahren. Der Rechtsbogen klappte besser als der linke. Aber das war schon so gewesen, als er noch in die Schule ging. Das war nicht mehr zu ändern.
Er überlegte sich, was er damals alles gekonnt hatte. Er holte mit dem linken Beine Schwung und fuhr eine Drei. Erst einen Auswärtsbogen, dann eine winzige Schleife und abschließend einen Rückwärtsbogen.
«Donnerwetter», sagte er hochachtungsvoll zu sich selber. «Gelernt ist gelernt.» Und nun riskierte er eine aus rechten Auswärts- und Einwärtsbögen zusammengestellte Acht. Das klappte auch! Die beiden Ziffern waren groß und deutlich in die Eisfläche graviert.
«Und jetzt eine Pirouette», sagte er laut, holte mit dem linken Bein und beiden Armen Schwung, drehte sich etwa zehnmal wie ein Kreisel um sich selber, lachte übermütig, da zog ihm eine unsichtbare Macht die Füße vom Eis! Er gestikulierte, es half nichts, er schlug lang hin, der Hinterkopf dröhnte, das Eis knisterte, die Rippen schmerzten, Schulze lag still. Er lag mit offenen Augen und blickte verwundert himmelwärts.
Minutenlang rührte er sich nicht. Dann schnallte er die Schlittschuhe ab. Ihn fröstelte. Er stellte sich auf die Füße, hinkte übers Eis zur Gittertür, drehte sich noch einmal um, lächelte wehmütig und sagte: «Wenn's dem Esel zu wohl wird...»
Am späten Nachmittag saßen die drei Männer im Lesezimmer, studierten die Zeitungen und sprachen über wichtige Ereignisse der letzten Zeit. Sie wurden von Professor Heltai, dem Tanzlehrer des Hotels, unterbrochen. Er trat an den Tisch und bat Herrn Schulze, ihm zu folgen. Schulze ging mit.
Nach einer Viertelstunde fragte Kesselhuth: «Wo bleibt eigentlich Schulze?»
«Vielleicht lässt er sich Unterricht in modernen Tänzen geben?»
«Nicht sehr wahrscheinlich», meinte Kesselhuth. (Er hatte Hagedorns Bemerkung ernst genommen.)
Nach einer weiteren Viertelstunde brachen sie auf, Schulze zu entdecken. Sie fanden ihn, ohne größere Schwierigkeiten, in einem der Speisesäle.
Er stand spreizbeinig auf einer hohen Leiter, schlug gerade einen Nagel in die Wand und verknotete an diesem eine Wäscheleine. Dann kletterte er herunter und schleppte die Leiter voller Eifer an die Nebenwand.
«Haben Sie Fieber?» fragte Hagedorn besorgt.
Schulze stieg auf die Leiter, nahm einen Nagel aus dem Mund und den Hammer aus der Anzugtasche. «Ich bin gesund», sagte er.
«Ihr Benehmen spricht dagegen.»
«Ich dekoriere», erklärte Schulze und schlug mit dem Hammer auf seinen Daumen. Dann knotete er das andere Ende der Leine fest. Sie hing jetzt quer durch den Saal. «Eine allerliebste Beschäftigung», meinte er und kletterte wieder herunter. «Ich bin dem Professor der Tanzkunst behilflich.»
Da rückte Heltai mit zwei Stubenmädchen an, die einen großen Korb trugen. Die Mädchen reichten Schulze alte, zerlöcherte Wäschestücke hinauf, und er hängte sie dekorativ über die Leine.
Der Professor betrachtete die herabhängenden Hemden, Hosen, Strümpfe und Leibchen, kniff ein Auge zu, zwirbelte sein schwarzes Schnurrbärtchen und rief: «Sehr fesch, mein Lieber!»
Schulze schob in einem fort die Leiter durch den Saal, kletterte hinauf und herunter und hängte unermüdlich die dekorativen Fetzen auf. Die Stubenmädchen kicherten über die zerlöcherte, vorsintflutliche Unterwäsche. Sogar ein riesiges Fischbeinkorsett war dabei.
Der Professor rieb sich die Hände. «Sie sind ein Künstler, mein Lieber. Wann haben Sie das gelernt?»
«Soeben, mein Lieber», sagte Schulze.
Der Professor ließ, ob dieser burschikosen Entgegnung, seinen Schnurrbart los. «Andere Saalseite gleichfalls!» rief er. «Ich hole Luftschlangen und Ballons.» Er verschwand.
Schulze schäkerte mit den Zimmermädchen und tat überhaupt, als seien Hagedorn und Kesselhuth längst fort.
Johann ertrug den Anblick nicht länger. Er trat auf die Leiter zu und sagte: «Lassen Sie mich hinauf!»
«Für zwei ist kein Platz», erwiderte Schulze.
«Ich will allein hinauf», sagte Kesselhuth.
«Das könnte Ihnen so passen», antwortete Schulze hochmütig. «Spielen Sie lieber Bridge! Feine Leute können wir hier nicht gebrauchen!»
Kesselhuth ging zu Hagedorn. «Wissen Sie keinen Rat, Herr Doktor?»
«Ich hab's ja kommen sehen», meinte der junge Mann. «Passen Sie auf: Morgen läßt man ihn Kartoffeln schälen!» Dann gingen die beiden, betrübt und im Gleichschritt, ins Lesezimmer zurück.
Das zwölfte Kapitel
Der Lumpenball
Nach dem Abendessen, das eine Stunde früher als sonst stattgefunden hatte, eilten die Gäste in ihre Zimmer und verkleideten sich.
Gegen zehn Uhr abends füllten sich die Säle, die Halle, die Bar und die Korridore mit Apachen, Bettlern, Zigeunerinnen, Leierkastenmännern, Indianerinnen, Einbrechern, Wilddieben, Zofen, Negern, Schulmädchen. Prinzessinnen, Schutzleuten, Menschenfressern, Spanierinnen, Vagabunden, hochbeinigen Pagen und Trappern.
Es trafen übrigens auch auswärtige Verbrecher, Gepäckträger und Wahrsagerinnen ein. Gäste anderer Hotels. Sie unterschieden sich von den ändern dadurch, dass sie Eintritt zahlen mussten. Sie taten es gern. Die Kostümbälle im Grandhotel dauerten bis zum Morgengrauen.
Die Direktion hatte zwei dörfliche Kapellen engagiert. In sämtlichen Sälen erscholl Tanzmusik. Scharen von Einheimischen waren da, in ihren wunderschönen alten Trachten. Die Bauern sollten gegen Mitternacht bodenständige Tänze vorführen, Schuhplattler, Watschentänze und andere international berühmte Sitten und Gebräuche.
Die Tanzweisen vermischten sich, da in jedem Saal etwas anderes gespielt wurde, zu einem wilden, ohrenbetäubenden Lärm. Papierschlangen und Konfetti flogen durch die Luft. Bauernburschen trieben etliche Ziegen und ein schreckhaftes Schwein durch die Säle. Das Ferkel und die zur Lustigkeit entschlossenen Damen quiekten um die Wette.
In der Halle war eine Tombola errichtet. Alles, was überflüssig und entbehrlich ist, war in Pyramidenform vereinigt worden. (Die Lose und die Gewinne bezog der Tanzlehrer seit Jahren von einer Münchner Firma. Und der Reingewinn der Lotterie fiel auf Grund eines Gewohnheitsrechtes, an ihn.)
Kesselhuth hatte während des Abendessens mitgeteilt, dass im Großen Saal ein Tisch mit drei Stühlen reserviert sei. Schulze und Hagedorn saßen, von verkleideten Menschen umgeben, an dem für sie bestellten Tisch und warteten auf den Besitzer der gut gehenden Schifffahrtslinie.
Doktor Hagedorn war hemdärmlig. Den Hals umschlang ein großes rotes Taschentuch. Auf dem Kopf trug er eine schief und tief ins Gesicht gezogene Reisemütze. Er stellte ganz offensichtlich einen Apachen dar.
Schulze hatte sich noch weniger verwandelt. Er trug, diesmal allerdings innerhalb des Hotels, seine übliche sportliche Ausrüstung: den violetten Anzug, die Wickelgamaschen, die kleeblättrigen Manschettenknöpfe, die schwarzsamtenen Ohrenklappen und die feurig rote Pudelmütze. Ihm wurde langsam heiß.
«Wo sind die Schlittschuhe?» fragte Hagedorn.
«Hören Sie auf!» bat Schulze. «Erinnern Sie mich nicht an meinen Hinterkopf! Ich hatte völlig vergessen, wie hart so eine Eisbahn sein kann. Als Schlittschuhläufer werde ich nicht mehr auftreten.»
«Und Sie hatten sich so darauf gefreut», sagte Hagedorn mitleidig.
«Das ist nicht weiter schlimm», erklärte Schulze. «Ich hatte mich vorübergehend in meinem Alter geirrt.» Er lächelte freundlich. «Wie gefallen Ihnen aber meine Dekorationen, junger Freund?» Er schaute sich zufrieden um.
Hagedorn erklärte, hingerissen zu sein.
«Das ist recht», sagte Schulze. «Wo doch steckt unser lieber Kesselhuth?»
In diesem Augenblick füllte jemand, der hinter ihnen stand, die drei Weingläser.
Wir haben keinen Wein bestellt», sagte Hagedorn erschrocken. «Ich möchte ein helles Bier haben.»
«Ich meinerseits auch», meinte Schulze.
Da lachte der Kellner. Und als sie sich erstaunt umdrehten, war es gar kein Kellner, sondern Herr Johann Kesselhuth. Er trug die Toblersche Livree, seinen altgewohnten, geliebten Anzug, und blickte Herrn Schulze, um Entschuldigung bittend, in die Augen.
«Großartig!» rief Hagedorn. «Ich will Sie nicht kränken, Herr Kesselhuth, aber Sie sehen wie der geborene herrschaftliche Diener aus!»
«Ich fühle mich nicht gekränkt, Herr Doktor», sagte Kesselhuth. «Wenn ich nicht Alexander wäre, möchte ich Diogenes sein.»
*
Die drei Männer amüsierten sich königlich. Jeder auf seine Weise. Herr Kesselhuth beispielsweise stand, obwohl er schließlich Besitzer einer Schifffahrtslinie war, glückselig lächelnd hinter dem Stuhl, auf dem Schulze saß, und nannte den armen Kerl, der die Eisbahn hatte kehren müssen, bei jeder Gelegenheit «gnädiger Herr». Und Schulze rief den Reeder Kesselhuth unentwegt beim Vornamen. «Johann, bitte Feuer!» Und: «Johann, Sie trinken zu viel!» Und: «Johann, besorgen Sie uns drei Schinkenbrote!»
Hagedorn meinte: «Kinder, das klappt, als ob ihr die Rollen jahrelang einstudiert hättet.»
«Sie sind ein Schlaumeier», sagte Schulze. Und Kesselhuth lachte geschmeichelt. Später kam der dicke Herr Lenz an den Tisch. Er hatte sich als Kaschemmenwirt verkleidet, trug eine halbleere Flasche Danziger Goldwasser unterm Arm und fragte Schulze, ob er sich denn nicht an der Prämiierung der drei gelungensten Lumpenkostüme vormerken lassen wolle. «Sie kriegen todsicher den ersten Preis», sagte er. «So echt wie Sie können wir ändern gar nicht aussehen! Wir sind ja bloß verkleidet.»
Schulze ließ sich überreden und ging mit Lenz zu Professor Heltai, der die Startnummern für den Wettbewerb zu verteilen hatte. Doch der Tanzlehrer zwirbelte den Schnurrbart und sagte: «Tut mir leid, mein Lieber. Sie fallen nicht unter die Bestimmungen. Sie sind nicht kostümiert. Sie sehen nur so aus. Sie sind ein Professional.»
Lenz war, weil er Rheinländer war, leicht erregbar. Aber der Professor blieb hart. «Ich habe meine Anweisungen», erklärte er abschließend.
«Na denn nicht, liebe Tante!» sagte Schulze und machte kehrt. Als er zum Tisch zurückkam, war Hagedorn verschwunden.
Johann hockte solo und sprach dem Alkohol zu. «Ein kleines Schulmädchen, in einem kurzen Rock und mit einem Ranzen auf dem Rücken, hat ihn weggeholt», berichtete er. «Es war die Dame aus Bremen.»
Sie gingen auf die Suche und gerieten versehentlich an die Tombola. Johann kaufte, auf Toblers leisen Befehl, dreißig Lose. Acht Gewinne waren darunter! Und zwar eine gerahmte Alpenlandschaft, die von einem einheimischen Ölmaler stammte. Ein großer Teddybär, der «Muh!» sagen konnte. Eine Flasche Kölnischwasser. Noch ein Teddybär. Eine Rolle Papierschlangen. Ein Karton Briefpapier. Und noch eine Flasche Kölnischwasser.
Sie beluden sich mit den Gewinnen und ließen im Nebenraum eine Blitzlichtaufnahme machen. «Des Jägers Heimkehr», meinte der Geheimrat. Und dann drängten sie sich weiter durch das Gewühl. Von Saal zu Saal. Durch alle Korridore. Aber Hagedorn war nicht zu finden.
«Wir müssen ihn finden, Johann», sagte der Geheimrat. «Das Bremer Schulmädchen hat ihn natürlich verschleppt. Dabei hat er mich auf beiden Knien beschworen, ihm eine Art Mutter zu sein.»
In der Bar war der verlorene Sohn auch nicht. Johann nahm die Gelegenheit wahr und begann die Gewinne wegzuschenken. Das Kölnischwasser fand bei den Bauernmädchen reißenden Absatz. Eine der Holländerinnen bekam ungefragt die ölgemalte Alpenlandschaft in die Hand gedrückt und bedankte sich holländisch. «Wir verstehen dich ja doch nicht», erwiderte Johann unwillig, gab ihr den Karton mit dem Briefpapier als Zugabe und sagte: «Kein Wort weiter!»
Sie kehrten an ihren Tisch zurück. Hagedorn war noch immer nicht da. Johann setzte die zwei Teddybären auf den dritten Stuhl. Der Geheimrat nahm die schwarzen Ohrenklappen ab. «Es ist merkwürdig», erklärte er. «Aber ohne Ohrenklappen schmeckt der Wein besser. Was, um alles in der Welt, hat das Gehör mit den Geschmacksnerven zu tun?»
«Nichts», sagte Johann.
Anschließend begannen sie zu experimentieren. Sie hielten sich die Ohren zu und tranken. Sie hielten sich die Augen zu und tranken.
«Fällt Ihnen etwas auf?» fragte Tobler.
«Jawohl», antwortete Johann. «Sämtliche Leute starren herüber und halten uns für blödsinnig.»
«Was fällt Ihnen sonst noch auf?»
«Man kann machen, was man will - der Wein schmeckt großartig. Prosit!»
*
Währenddem saß Frau Casparius, eine große Schleife im Haar, und auch sonst als halbwüchsiges Schulmädchen verkleidet, mit dem Apachen Fritz Hagedorn in dem verqualmten, überfüllten Bierkeller. An ihrem Tisch saßen außerdem noch viele andere Gäste. Sie waren ebenfalls kostümiert, aber sie litten darunter.
Das rund dreißigjährige Schulkind klappte den Ranzen auf, holte eine Puderdose heraus und betupfte sich die freche Nase mit einer rosa Quaste.
Der junge Mann sah ihr zu. «Was machen die Schularbeiten, Kleine?»
«Ich brauche dringend ein paar Nachhilfestunden. Vor allem in Menschenkunde. Da tauge ich gar nichts.»
Du musst warten, bis du größer wirst», rief er. «Auf diesem Gebiet lernt man nur durch Erfahrung.»
«Falsch», sagte sie. «Wenn es darnach ginge, müsste ich die Beste in der ganzen Klasse sein. Aber es geht nicht darnach.»
«Schade. Dann war dein ganzer Fleiß vergeblich? Oh, du armes Kind!»
Sie nickte.
«Was willst du denn mal werden, wenn du aus der Schule kommst?»
«Straßenbahnschaffner», sagte sie. «Oder Blumenförster. Oder, am allerliebsten, Spazierführer.»
«Aha. Das ist aber auch ein interessanter Beruf! Ich wollte eigentlich Schneemann werden. Schneeleute haben über ein halbes Jahr Ferien.»
«Heißt es nicht Schneemänner?»
«Es heißt Schneeleute. Aber als Schneemann braucht man das Abitur.»
«Und was sind Sie stattdessen geworden?» fragte sie.
«Erst war ich Tortenzeichner», antwortete er. «Und jetzt bin ich Selbstbinder. Man hat sein Auskommen. Ich besitze einen eigenen Wagen. Einen Autobus. Wegen der großen Verwandtschaft. Wenn du einmal in Berlin bist, fahr ich dich herum. Ich habe Blumenkästen am Chassis.»
Das Schulmädchen klatschte in die Hände. «Schön!» rief sie. «Mit Pelargonien?»
«Natürlich», sagte er. «Andre Blumen passen überhaupt nicht zu Autobussen.»
Nun wurde es den anderen Leuten am Tisch endgültig zu viel. Sie zahlten und gingen fluchtartig ihrer Wege.
Das Schulkind freute sich und sagte: Wenn wir noch lauter sprechen, haben wir in zehn Minuten das Lokal ganz für uns allein.»
Der Plan zerschlug sich. Erst kam Lenz, der Kaschemmenwirt. Seine Flasche Goldwasser war leer. Er bestellte Burgunder und sang rheinische Lieder. Und dann erschien Frau von Mallebré. Mit Baron Keller. Sie ging, weil sie schöne, schlanke Beine hatte, als Palastpage gekleidet. Keller trug seinen Frack. Man begrüßte einander so freundlich wie möglich.
«Im Frack?» fragte Hagedorn erstaunt.
Keller klemmte das Monokel noch fester. «Ich kostümiere mich nie. Es liegt mir nicht. Ich kann so was nicht komisch finden.»
«Aber im Frack zum Lumpenball!» meinte das kleine Schulmädchen.
«Warum denn nicht?» bemerkte der dicke Lenz. «Es gibt auch Lumpen im Frack!» Und dann lachte er ausschweifend.
Der Baron verzog den Mund. Und Hagedorn erklärte, leider gehen zu müssen.
«Bleiben Sie doch noch», bat der Page. Und das Schulmädchen begann laut zu schluchzen.
«Ich habe mein Wort verpfändet», meinte der junge Mann. «Wir Apachen sind ein emsiges Volk. Es handelt sich um einen Einbruch.»
«Was wollen Sie denn stehlen?» fragte Lenz.
«Einen größeren Posten linker Handschuhe», sagte Hagedorn geheimnisvoll. Er legte einen Finger an den Mund und entfernte sich schnell.
*
Die beiden älteren Herren winkten, als sie ihn kommen sahen. «Wo waren Sie mit dem Schulmädchen?» fragte Schulze sittenstreng. «Habt ihr gut gefolgt?»
«Lieber, mütterlicher Freund», sagte der junge Mann. «Wir haben nur davon gesprochen, was die Kleine, wenn sie aus der Schule kommt, werden will.»
«Pfui, Herr Doktor!» rief Kesselhuth.
«Na, und was will sie werden?» fragte Schulze.
«Sie weiß es noch nicht genau. Entweder Blumenförster oder Spazierführer.»
Die beiden älteren Herren versanken in Nachdenken. Dann sagte Kesselhuth, der sich wieder hinter Schulzes Stuhl gestellt hatte: «Na, denn Prost!» Sie tranken. Und er fuhr fort: «Gnädiger Herr, darf ich mir eine Bemerkung erlauben?»
«Ich bitte darum, Johann», sagte Schulze.
«Wir sollten jetzt vors Hotel gehen und auf Kasimirs Wohl trinken.»
Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Kesselhuth belud sich mit einer Flasche und drei Gläsern. Schulze übernahm die Teddybären. Dann spazierten die drei Männer im Gänsemarsch durch die Säle. Hagedorn schritt voran.
Im Grünen Saal störten sie die Preisverteilung für die gelungensten Kostüme. Im Kleinen Saal behinderten sie durch ihren Vorbeimarsch die von Professor Heltai arrangierten Tanz- und Pfänderspiele. Würdig und ein wenig im Zickzack marschierend bahnten sie sich unbeirrt ihren Weg.
Der Portier, den besonders waghalsige Ballbesucher mit Konfetti und Papierschlangen verziert hatten, verbeugte sich vor Hagedorn und blickte giftig zu Schulze hinüber, der die Teddybären emporhob und laut zu ihnen sagte: «Schaut euch einmal den bösen Onkel an! So etwas gibt's wirklich.»
Kasimir, der Husaren-Schneemann, sah wieder ganz reizend aus. Die drei Männer betrachteten ihn voller Liebe. Es schneite.
Schulze trat vor. «Bevor wir auf das Wohl unseres gemeinsamen Sohnes anstoßen», sagte er feierlich, «möchte ich ein gutes Werk tun. Es ist bekanntlich nicht gut, dass der Mann allein sei. Auch der Schneemann nicht.» Er ging langsam in Kniebeuge und setzte die Teddybären, einen zur Rechten und einen zur Linken Kasimirs, in den kalten Schnee. «Nun hat er wenigstens, auch wenn wir fern von ihm weilen, Gesellschaft.»
Dann füllte Herr Kesselhuth die Gläser. Aber der Rest Wein, der in der Flasche war, reichte nicht aus. Und Johann verschwand im Hotel, um eine volle Flasche zu besorgen.
Nun standen Schulze und Hagedorn allein unterm Nachthimmel. Jeder hatte ein halbvolles Glas in der Hand. Sie schwiegen. Der Abend war sehr lustig gewesen. Aber die beiden Männer waren plötzlich ziemlich ernst. Ein sich leise bewegender Vorhang von Schneeflocken trennte sie.
Schulze hustete verlegen. Dann sagte er: «Seit ich im Krieg war, habe ich keinen Mann mehr geduzt. Frauen, na ja. Da gibt es Situationen, wo man schlecht Sie sagen kann. Ich möchte, wenn es dir recht ist, mein Junge, den Vorschlag machen, dass wir jetzt Brüderschaft trinken.»
Der junge Mann hustete gleichfalls. Dann antwortete er: «Ich habe seit der Universität keinen Freund mehr gehabt. Ich hätte mich nie getraut, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten. Menschenskind, ich danke dir.»
«Ich heiße Eduard», bemerkte Schulze.
«Ich heiße Fritz», sagte Hagedorn.
Dann stießen sie mit den Gläsern an, tranken und drückten einander die Hand.
Kesselhuth, der, eine neue Flasche unterm Arm, aus der Tür trat, sah die beiden, ahnte die Bedeutung dieses Händedrucks, lächelte ernst, machte behutsam kehrt und ging in das lärmende Hotel zurück.
Das dreizehnte Kapitel
Der große Rucksack
Mutter Hagedorns Paket traf am nächsten Tag ein. Es enthielt die Reklamearbeiten, die der Sohn verlangt hatte, und einen Brief.
«Mein lieber guter Junge!» schrieb die Mutter. «Vielen Dank für die zwei Ansichtskarten. Ich bin auf dem Sprunge und will das Paket zum Bahnhof bringen, damit Du es schnell kriegst. Hoffentlich knicken die Ecken nicht um. Ich meine, bei den Paketen und Kunstdrucksachen. Und sage diesem Herrn Kesselhuth, wir möchten Deine Arbeiten gelegentlich zurückhaben. Solche Herrschaften sind meistens vor lauter Großartigkeit vergesslich.
Herr Franke sagt, wenn es mit den Toblerwerken klappte, das wäre zum Blödsinnigwerden. Du weißt ja, dass er sich stets so ausschweifend ausdrückt. Er will für dich die Daumen halten. Das finde ich, wo er nur zur Untermiete bei uns wohnt, sehr anständig von ihm. Ich halte nicht nur die Daumen, sondern auch die großen Zehen. Wenn trotzdem aus der Anstellung nichts werden sollte, haben wir uns wenigstens keine Vorwürfe zu machen. Das ist die Hauptsache. Man darf sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Und wer sich ein Bein ausreißt, hat es sich selber zuzuschreiben.
Dass der andere Preisträger ein netter Mensch ist, freut mich. Grüße ihn schön. Natürlich unbekannterweise. Und lasst Euch von den feinen Leuten nichts vormachen. Viele können sowieso nichts dafür, dass sie reich sind. Viele haben, glaube ich, nur deswegen Geld, weil der liebe Gott ein weiches Herz hat. Besser als gar nichts, hat er bei ihrer Erschaffung gedacht. Wirst du übrigens mit der Wäsche reichen? Sonst schicke mir rasch die schmutzige in einem Karton. In drei Tagen hast du sie wieder. Bei Heppners liegen sehr schöne Oberhemden im Fenster. Ich werde eins zurücklegen lassen. Ein blaues mit vornehmen Streifen. Wir holen es, wenn Du wieder zu Hause bist. Ich könnte Dir's mitschicken. Aber wer weiß, ob es Dir gefällt.
So mein Junge. Jetzt fahre ich mit dem Zug bis zum Potsdamer Bahnhof. Dann laufe ich bis zum Anhalter. Schneeluft ist gesund. Man kommt überhaupt zu wenig aus der Stube. Die Ansichtskarten gefallen mir gut. So ähnlich wie neulich im Kino, wo Du Fremdenloge verlangtest. Ich habe es Herrn Franke erzählt. Er hat gelacht.
Vergaß nicht, wenn Du im Wald bist, acht- bis zehnmal tief Atem zu holen. Nicht öfter. Sonst kriegt man Kopfschmerzen. Und was soll das.
Mir geht es ganz ausgezeichnet. Ich singe viel. In der Küche. Wenn ich esse, steht Deine Photographie auf dem Tisch. Denn allein schmeckt's mir nicht. Hab ich recht? Hoffentlich kommt morgen ein Brief von Dir. Wo Du ausführlich schreibst. Vorläufig versteh ich nämlich manches noch nicht. Vielleicht bin ich mit der Zeit ein bisschen dumm geworden. Durch die Arterienverkalkung.
Wieso hast Du zum Beispiel drei kleine Katzen im Zimmer? Und wieso hast Du zwei Zimmer und ein extra Bad? Und was soll das mit dem Ziegelstein? Das ist mir völlig unklar, mein lieber Junge.
Herr Franke sagt, hoffentlich wäre es wirklich ein Hotel. Und nicht etwa ein Irrenhaus. Er ist ein schrecklicher Mensch. Hat denn der andere Preisträger auch so viele Räumlichkeiten und Katzen und einen Ziegelstein?
Der Roman in der Zeitung ist diesmal sehr spannend. Viel besser als der letzte. Besonders seit gestern. Herr Franke und ich sind ganz verschiedener Ansicht, wie die Geschichte weitergehen wird. Er versteht nichts von Romanen. Das wissen wir ja nun schon.
Und dann: mach keine Dummheiten! Ich meine Ausflüge auf gefährliche Berggipfel. Gibt es in Bruckbeuren Lawinen? Dann sieh Dich besonders vor! Sie fangen ganz harmlos an und plötzlich sind sie groß. Ausweichen hat dann keinen Zweck mehr.
Passe, bitte, gut auf! Ja? Auch mit den weiblichen Personen im Hotel. Entweder ist es nichts Genaues oder in festen Händen. Daß nicht wieder so ein Krach wird wie damals in der Schweiz. Da sitzt Du dann wieder da mit dem dicken Kopf. Sei so lieb. Sonst habe ich keine Ruhe.
Ich schreibe wieder einmal einen Brief, der nicht alle wird. Also Schluß! Antworte auf meine Fragen. Du vergißt es oft. Und nun zum Bahnhof.
Bleibe gesund und munter! Kein Tag, der vorüber ist, kommt wieder. Und benimm Dich! Du bist manchmal wirklich frech. Viele Grüße und Küsse von Deiner Dich über alles liebenden Mutter.»
*
Nach dem Lunch saßen die drei Männer auf der Terrasse, und Doktor Hagedorn zeigte seine gesammelten Werke. Schulze betrachtete sie eingehend. Er fand sie sehr gelungen, und sie unterhielten sich lebhaft darüber. Herr Kesselhuth rauchte eine dicke schwarze Zigarre, schenkte allen Kaffee ein und sonnte sich in jeder Beziehung. Schließlich meinte er: «Also, heute abend schicke ich das Paket an Geheimrat Tobler.»
«Und vergessen Sie, bitte, nicht, bei ihm anzufragen, ob er auch für Herrn Schulze einen Posten hat», bat Hagedorn. «Es ist dir doch recht, Eduard?»
Schulze nickte. «Gewiß, mein Junge. Der olle Tobler soll sich mal anstrengen und was für uns beide tun.
Kesselhuth nahm die Arbeiten an sich. «Ich werde nichts unversucht lassen, meine Herren.»
«Und er soll die Sachen, bitte, bestimmt zurückgeben», erklärte der junge Mann. «Meine Mutter ist diesbezüglich sehr streng.»
«Selbstverständlich», sagte Schulze, obwohl ihn das ja eigentlich gar nichts anging.
Kesselhuth zerdrückte den Rest seiner Zigarre im Aschenbecher, erhob sich ächzend, murmelte einiges und ging traurig davon. Denn im Rahmen der Hoteltüre stand der Graswander Toni und hatte zwei Paar Schneeschuhe auf der Schulter. Die dritte Lehrstunde nahte. Das Geheimnis des Stemmbogens sollte enträtselt werden.
Eduard und Fritz brachen etwas später auf. Sie planten einen Spaziergang. Zunächst statteten sie jedoch ihrem Schneemann einen kurzen Besuch ab. Der Ärmste taute. «Kasimir weint», behauptete Hagedorn. «Das weiche Gemüt, Eduard, hat er von dir.»
«Er weint nicht», widersprach Schulze. «Er macht eine Abmagerungskur.»
«Wenn wir Geld hätten», meinte Hagedorn, «könnten wir ihm einen großen Sonnenschirm schenken, in den Boden stecken und über ihm aufspannen. Ohne Schirm wird er zugrunde gehen.»
«Mit dem Geld ist das so eine Sache», meinte Schulze. «Auch wenn wir welches hätten - spätestens Anfang März stünde hier nur noch ein Schirm herum, und Kasimir wäre verschwunden. Die Vorteile des Reichtums halten sich sehr in Grenzen.»
«Du sprichst, als ob du früher ein Bankkonto gehabt hättest», sagte Hagedorn und lachte gutmütig. «Meine Mutter behauptet, Besitz sei häufig nichts anderes als ein Geschenk der Vorsehung an diejenigen, die im übrigen schlecht weggekommen sind.»
«Das wäre allzu gerecht», erklärte Schulze.
«Und allzu einfach.»
Dann wanderten sie, in beträchtliche Gespräche vertieft, nach Schloß Kerms hinaus, sahen den Bauern beim Eisschießen zu, folgten quellwärts einem zugefrorenen Gebirgsbach, mussten steil bergan klettern, glitten aus, schimpften, lachten, atmeten schwer, schwiegen, kamen durch weiße Wälder und entfernten sich mit jedem Schritt mehr von allem, was an den letzten Schöpfungstag erinnert.
Schließlich war die Welt zu Ende. Es gab keinen Ausweg. Hohe Felswände behoben den letzten Zweifel. Dahinter befand sich, sozusagen offensichtlich, das leere Nichts.
Und von einem dieser Felsen stürzte ein Wasserfall herab. Nein, er stürzte nicht. Der Frost hatte ihn mit beiden Armen im Sturz aufgehalten. Er war vor Schreck erstarrt. Das Wasser hatte sich in Kristall verwandelt.
«Im Baedeker vergleicht man diesen Wasserfall mit einem Kronleuchter», bemerkte Hagedorn.
Schulze setzte sich auf eine eisgekühlte Baumwurzel und sagte: «Ein Glück, dass die Natur nicht lesen kann.»
*
Nach dem Kaffeetrinken ging Hagedorn auf sein Zimmer. Schulze versprach bald nachzukommen. Wegen der kleinen Katzen und wegen eines großen Kognaks. Aber als er aus dem Lesesaal trat und auf die Treppe zu steuerte, wurde er von Onkel Folter gestört. «Sie sehen aus, als ob Sie sich langweilen», meinte der Portier.
«Machen Sie sich meinetwegen kein Kopfzerbrechen!» bat Schulze. «Ich langweile mich niemals.» Er wollte gehen.
Onkel Folter tippte ihm auf die Schulter. «Hier ist eine Liste! Den Rucksack bekommen Sie in der Küche.»
«Ich brauche keinen Rucksack», meinte Schulze.
«Sagen Sie das nicht!» erklärte der Portier und lächelte grimmig. «Das Kind der Botenfrau hat die Masern.»
«Gute Besserung! Aber was hat das arme Kind in dem Rucksack zu suchen, den ich in der Küche holen soll?»
Der Portier schwieg und legte Briefe und Zeitungen in verschiedene Schlüsselfächer.
Schulze betrachtete die Liste, die vor ihm lag, und las staunend:
«100 Karten Wolkenstein-Panorama à 15
2 Tuben Gummiarabikum
1 Rolle dunkelrote Nähseide
50 Briefmarken ä 25
3 Dutzendpackungen Rasierklingen
2 Meter schmales weißes Gummiband
5 Riegel Wasserglasseife
1 Packung Pyramiden, große Tabl.
1 Flasche Füllfedertinte
1 Paar Sockenhalter, schwarz
1 Paar Schuhspanner, Größe 37
1 Tüte Pfefferminztee
1 Stahlbürste für Wildlederschuhe
3 Schachteln Mentholdragees
1 Hundeleine, grün, Lack
4 Uhrreparaturen abholen
l Dutzend Schneebrillen
l kl. Flasche Birkenwasser
l Aluminiumbrotkapsel für Touren.»
Die Liste war keineswegs zu Ende. Aber Schulze hatte fürs erste genug. Er sah erschöpft hoch, lachte und sagte: «Ach, so ist das gemeint!»
Der Portier legte einige Geldscheine auf den Tisch. «Schreiben Sie hinter jeden Posten den Preis. Am Abend rechnen wir ab.»
Schulze steckte die Liste und das Geld ein. «Wo soll ich das Zeug holen?»
«Im Dorf», befahl Onkel Polter. «In der Apotheke, beim Friseur, auf der Post, beim Uhrmacher, in der Drogerie, beim Kurzwarenhändler, im Schreibwarengeschäft. Beeilen Sie sich!»
Der andere zündete sich eine Zigarre an und sagte, während er sie in Zug brachte: «Ich hoffe, es hier noch weit zu bringen. Dass ich jemals Botenfrau würde, hätte ich noch vor einer Woche für ausgeschlossen gehalten.» Er nickte dem Portier freundlich zu. «Hoffentlich bilden Sie sich nicht ein, dass Sie mich auf diese Weise vor der Zeit aus Ihrem Hotel hinausgraulen.»
Onkel Polter antwortete nicht.
«Darf man schon wissen, was Sie morgen mit mir vorhaben?» fragte Schulze. «Wenn es Ihnen recht ist - ich möchte für mein Leben gern einmal Schornstein fegen! Wäre es Ihnen möglich zu veranlassen, dass der Schornsteinfeger morgen Zahnschmerzen kriegt?» Er ging strahlend seiner Wege.
Onkel Folter nagte über eine Stunde an der Unterlippe. Später fand er keine Zeit mehr dazu. Die Gäste kehrten in Scharen von den Skiwiesen und von Ausflügen heim.
Schließlich kam sogar der Hoteldirektor Kühne nach Hause. «Was ist denn mit Ihnen los?» fragte er besorgt. «Haben Sie die Gelbsucht?»
«Noch nicht», sagte der Portier. «Aber es kann noch werden. Dieser Schulze benimmt sich unmöglich. Er wird immer unverschämter.»
«Streikt er?» fragte Karl der Kühne.
«Im Gegenteil», meinte der Portier. «Es macht ihm Spaß!»
Der Direktor öffnete wortlos den Mund.
«Morgen möchte er Schornstein fegen!» berichtete Polter. «Es sei ein alter Traum von ihm.»
Karl der Kühne sagte: «Einfach tierisch!» und ließ Herrn Polter in trübe Gedanken versunken zurück.
*
Geheimrat Tobler alias Herr Schulze brauchte zwei Stunden, bis er, von der Last des Rucksacks gebeugt, ins Hotel zurückkehrte. Er hatte sich übrigens nie so gut unterhalten wie während dieser von seltsamen Einkäufen ausgefüllten Zeit. Der Uhrmacher hatte ihn beispielsweise über die politische Lage in Ostasien weitestgehend aufgeklärt, und über die wachsende wirtschaftliche Einflussnahme Japans auf dem Weltmarkt. Der Provisor in der Apotheke hatte die Homöophatie verteidigt und ihn für einen der nächsten Abende zu einem Viertel Roten in die Dorfschenke eingeladen. Das blonde Ladenfräulein beim Friseur hatte ihn für den Ehemann der Botenfrau gehalten. Und der Drogist hatte ihm, im Flüsterton, bei künftigen größeren Einkäufen Prozente in Aussicht gestellt.
Er lud den Rucksack in der Hotelküche ab und begab sich in den fünften Stock, um die Abrechnung für den Portier fertigzumachen. Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer und musste feststellen, dass er Besuch hatte! Ein fremder, gutgekleideter Herr lag, mit dem Kopf vorneweg, unter dem Waschtisch, hämmerte emsig und hatte anscheinend keine Ahnung, dass er nicht mehr allein war. Jetzt begann er sogar zu pfeifen. «Sie wünschen?» fragte Schulze laut und streng.
Der Eindringling fuhr hoch, stieß mit dem Hinterkopf gegen die Tischkante und kam, rückwärts kriechend, ans Tageslicht.
Es war Herr Kesselhuth! Er hockte auf dem Fußboden und machte ein schuldbewusstes Gesicht.
«Sie sind wohl nicht bei Tröste!» sagte Schulze. «Stehen Sie gefälligst auf!»
Kesselhuth erhob sich und klopfte seine Beinkleider sauber. Mit der Hand, die übrig blieb, massierte er den Hinterkopf.
«Was haben Sie unter meinem Waschtisch zu suchen?» fragte Schulze energisch.
Der andere wies auf einen großen Karton, der auf dem Stuhl lag. «Es ist wegen der Steckdose, Herr Geheimrat», sagte er verlegen. «Die war nicht ganz in Ordnung.»
«Ich brauche keine Steckdosen!»
«Doch, Herr Geheimrat», antwortete Johann und öffnete den Karton. Es kam eine nickelglänzende elektrische Heizsonne zum Vorschein. «Sie erkälten sich sonst zu Tode.» Er stellte das Gerät auf den Tisch, kroch erneut unter den Waschtisch, fügte den Stecker in den Kontakt, kam wieder hervor und wartete gespannt.
Allmählich begann das Drahtgitter zu erglühen, erst rosa, dann rot; und schon spürten sie, wie sich die eisige Dachkammer mit sanfter Wärme füllte. «Das Wasser in der Waschschüssel taut auf», sagte Johann und schaute selig zu seinem Gebieter hinüber.
Tobler empfand diesen Blick, aber er erwiderte ihn nicht.
«Und hier ist ein Kistchen Zigarren», erklärte Kesselhuth schüchtern. «Ein paar Blumen habe ich auch besorgt.»
«Nun aber nichts wie raus!» meinte der Geheimrat. «Sie hätten Weihnachtsmann werden sollen!»
*
Inzwischen hatte auch Doktor Hagedorn Besuch erhalten. Es hatte geklopft. Er hatte, müde auf dem Sofa liegend, Herein gerufen und gefragt: «Warum kommst du so spät, Eduard?»
Aber der Besucher hatte geantwortet: «Ich heiße nicht Eduard, sondern Hortense.» Kurz und gut, es war Frau Casparius! Sie war erschienen, um mit den drei siamesischen Katzen zu spielen. Und das tat sie denn auch. Sie saß auf dem Teppich und stellte Gruppen.
Schließlich fand sie, dass sie sich lange genug als Tierfreundin betätigt hatte, und wandte sich dem eigentlichen Zweck ihrer Anwesenheit zu. «Sie sind nun schon drei Tage hier», sagte sie vorwurfsvoll. «Wollen wir morgen einen Ausflug machen? Wir nehmen den Lunch mit und gehen bis zur Lamberger Au. Dort legen wir uns in die Sonne. Und wer zuerst den Sonnenstich hat, darf sich was wünschen.»
«Ich wünsche mir gar nichts», erklärte der junge Mann. «Nicht einmal den Sonnenstich.»
Sie hatte sich in einen geräumigen Lehnstuhl gesetzt, zog die Beine hoch und legte die Arme um die Knie. «Wir könnten auch folgendes unternehmen», meinte sie leise. «Wir könnten die Koffer packen und ausreißen. Was halten Sie von Garmisch?»
«Garmisch ist meines Wissens ein reizender Ort», sagte er. «Aber Eduard wird es wahrscheinlich nicht erlauben.»
«Was geht uns denn Eduard an?» fragte sie ärgerlich.
«Er vertritt Mutterstelle an mir.»
Sie wiegte mit dem Kopf. «Wir könnten mit dem Nachtzug fahren. Kommen Sie. Jede Stunde ist kostbar. An ein Fortleben nach dem Tode glaube ich nämlich nicht recht.»
«Also deswegen haben Sie's so eilig!» meinte er. Es klopfte. Er rief: «Herein!»
Die Tür ging auf. Schulze trat ein. «Entschuldige, Fritz. Ich hatte ein paar Besorgungen zu machen. Bist du allein?»
«Sofort!» sagte Frau Hortense Casparius, sah durch Herrn Schulze hindurch, als sei er aus Glas, und ging.
Das vierzehnte Kapitel