Die geheimnisvolle Telefonnummer

Jo Hanns Rösler

„In solchen Fällen rufst du einfach beim König an“, sagte ich. „Weißt du die Telefonnummer des Königs, Papa?“ Ich gab sie meinem sechsjährigen Töchterchen. „24 48 24“, sagte ich, „wenn du einmal nicht weiter weißt und einen Kummer hast, den du deinen Eltern nicht sagen willst, auch wenn du etwas angestellt hast und in der Patsche sitzt, ruf den guten König an, er weiß dir bestimmt Rat.“

Als guter Vater macht man manchmal ein Experiment. Kinder erzählen daheim nicht alles den Eltern, und man weiß oft nicht, was ihr kleines Herz bedrückt. Wir stehen dann als Väter oft recht hilflos, und so erfand ich das Märchen von der Telefonnummer des Königs, die die meine war. Und richtig, schon am nächsten Tag hörte ich im Telefon die überaus aufgeregte Stimme meines Kindes.

„Hallo! Ist dort der König?“ „Ja“, sagte ich mit verstellter Stimme. „Wer will den König sprechen?“ „Ich.“ „Sagst du mir nicht deinen Namen?“ „Christinchen heiße ich, und wie heißt du?“ „Der König“, antwortete ich. „Ich habe sonst keinen Namen. Hast du etwas auf dem Herzen?“ „Ja. Ich- „

 

Meine Tochter Christine, die heute schon siebzehn ist, hat die Telefonnummer des Königs ihre ganze Jugend aufbewahrt. Auch als sie elf Jahre war, rief sie noch manchmal den König an.

Sechs Jahre hatte sie jetzt in meinem Büro, das ich früh neun Uhr betrat und nachmittags fünf Uhr verließ, nicht mehr angerufen. Nun ja, aus Kindern werden Leute, und ein guter König gehört zum alten Märchen. Ich hatte gerade daheim rechten Verdruss mit ihr. Christine hatte sich verliebt, und ich fand meine Tochter noch viel zu jung dafür und auch, dass der Knülch nicht der richtige Mann für meine Tochter war. Das gibt es bei Vätern oft. Wir warten alle auf einen Mustergatten für unsere Töchter. Er aber war ein Held, und Helden, die überall siegen, haben Väter als Schwiegersöhne weniger gern. Vor allem aber war mir Christine noch zu jung, um sie schon jetzt zu verlieren. Ich weigerte mich also beharrlich, ihn kennen zu lernen und im Haus zu empfangen. Es hatte daheim eine heftige Aussprache gegeben, die damit abschloss, dass ich sagte: „Endgültig! Ich will diesen Namen in meinen vier Wänden nicht mehr hören!“ Dass meine Tochter heulend hinauslief und die Tür ein wenig heftiger hinter sich zuwarf, als üblich ist, gehört zu den väterlichen Endgültigkeitsszenen. Wir sprachen seitdem nicht mehr miteinander, meine Tochter und ich. Seit drei Tagen schon.

Heute läutete bei mir im Büro das Telefon. „Ja?“ meldete ich mich. „Ist dort der König?“ Mir fiel fast vor Schreck der Hörer aus der Hand. „Ja“, sagte ich, „der König. Wer will ihn sprechen?“ „Hier ist Christine“, sagte meine Tochter, „hilfst du mir heute noch, wenn ich dich brauche?“ „Natürlich helfe ich dir, wenn ich es vermag. Wo drückt der Schuh?“ Ich wusste genau, was kam. Es kam auch. „Ich liebe einen Mann. Er gefällt Vater nicht. Kannst du nicht mit meinem Vater reden, dass er etwas duldsamer wird und dem Mann, den ich liebe, wenigstens Gelegenheit gibt, sich mit ihm auszusprechen?“

Ich dachte ein wenig nach, was ich sagen sollte. Dann sagte ich es: „Ich kenne deinen Vater. Er liebt dich über alles. Er wird schon seine Gründe haben, warum er den jungen Mann nicht empfängt, von dem du dir einbildest, dass du ihn liebst.“ „Mag sein, guter König, dass du meinen Vater kennst. Aber du kennst Jürgen nicht. Sonst würdest du meinem Vater bestimmt nicht Recht geben. Ich bin so verzweifelt – am liebsten ginge ich ins Wasser.“ „Da würdest du aber sehr nass“, sagte ich, und meine Stimme war gar nicht mehr majestätisch, „wenn du so dumme Sachen erzählst, dann ruf deinen König nicht mehr an.“

Pause. Stille. Dann:

„Sag, König, trägst du eigentlich eine goldene Krone?“

„Ja. Nein. Warum?“

„Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ein guter König mit einer goldenen Krone auf dem Haupt so zu einem unglücklichen Mädchen spricht, das ihn um seine Hilfe anfleht. Dann wäre es besser, wir hätten eine Republik und du würdest deine Krone niederlegen. Dann habe ich bisher an einen ganz falschen König geglaubt.“

„Also gut“, sagte da der König nach einer langen Pause der Unentschlossenheit und des inneren Widerstreits, „ich werde mit deinem Vater reden. Vielleicht bekomme ich ihn dazu, dass er am nächsten Sonntag zum Mittagessen deinen Jürgen empfängt. Aber versprechen kann ich dir nicht, dass er sein Urteil über ihn ändert. Aber du kannst ihn schon heute für Sonntag einladen.“

„Danke! Danke! Danke!“

„Bist du jetzt wieder glücklich und mit deinem König zufrieden?“

„Ja, Papa! Sehr, Papa! Über alles, Papa!“ sagte meine Tochter damals, und wenn sie morgen heiratet, stecke ich ihr die Telefonnummer des alten Königs in ihr Hochzeitsgut. Ich wünsche mir, dass sie ihren alten König jetzt nicht mehr braucht; der junge Mann, den sie mir ins Haus brachte, machte einen recht zuverlässigen Eindruck. Er ist gar kein Held, wie ich befürchtete, er ist ein Mann. Jetzt kann ich beruhigt meine Krone absetzen.

 

Der Ring

Christa Steege

Im Anfang unseres Jahrhunderts, lebte in einer kleinen Stadt ein jüdischer Juwelenhändler. Man sagte, dass er reich sei, doch niemand wusste es mit Sicherheit, weil der Juwelier sehr zurückgezogen lebte und wenig mit den Leuten sprach, es sei denn beim Verkauf eines Schmuckstückes.

Jakob Eisenstein war deshalb sehr überrascht, als eines Tages eine ärmlich gekleidete Frau, das Gesicht durch einen Trauerschleier halb verdeckt, zu ihm in den Laden trat und ihn mit flehender Stimme um Hilfe bat. Um so mehr erstaunte ihn dieser Besuch, denn die Frau zog ein Schächtelchen heraus und reichte es ihm über den Tisch. Er öffnete es und fand darin einen Ring von eigenartiger Schönheit. Der Juwelier sah die Frau prüfend an. Sie hatte nun den Schleier zurück geschlagen, er erblickte ein unglückliches und elendes Gesicht, so dass er die Frage, wie sie zu dem Ring gekommen sei, nicht über die Lippen brachte. „Sie wollen ihn verkaufen?“ fragte er statt dessen nur. Sie nickte. „Ich muss ihn verkaufen“, sagte sie. Als er ihr weiter freundlich zuredete, merkte er, dass sie ihn nicht mehr hörte, sie war ohnmächtig geworden. Erschrocken rief er nach seiner alten Haushälterin, die, ärgerlich vor sich hinmurmelnd, half, die Bewusstlose aus dem Laden in das kleine Arbeitsstübchen zu tragen. Dort betteten sie sie auf eine lange Sitzbank, die er für gewöhnlich dazu benutzte, seine Werkzeuge griffbereit auszubreiten.

Sie hatten Mühe, die fremde Frau wieder zu Bewusstsein zu bringen. Als sie die Augen aufschlug, bat sie so inständig, sie nicht auf die Straße zu schicken, war auch so matt, dass die alte Esther sie verwirrt und murrend mit in ihr eigenes Stübchen nahm, das im Erdgeschoß gleich neben der Küche lag. Dort flößte sie der Erschöpften heißen Tee ein, deckte sie warm zu und bemerkte zu ihrem mitleidigen Schrecken, dass die arme Frau schwanger war. Sie lief sogleich zu ihrem Herrn, um ihn zu fragen, was sie denn nun mit der unglücklichen Frau beginnen sollte. Er antwortete, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte: „Sie hat Schutz gesucht unter unserem Dache, sie soll Schutz haben.“

So blieb die fremde Frau im Hause. Sie half still und unauffällig im Hause mit, wo sie etwas zu tun fand, und ging nie auf die Straße. Einmal bat sie den Juwelier, er möchte doch den Ring als Bezahlung annehmen für das Asyl, das er ihr bot und das für sie kostbarer sei, als er ahnen könne. Er antwortete ausweichend, dass sie darüber sprechen wollten, wenn sie ihr Kind geboren habe, bis dahin solle sein Dach ihr Dach sein.

So lebten sie sehr still miteinander. Nach sechs Wochen kam das Kind zur Welt, ein sehr zartes, kleines Mädchen. Die alte Esther pflegte es wie eine Großmutter, und über der Freude an dem Kind erholte sich auch die junge Mutter mehr und mehr. Dann bat sie eines Tages den Juwelier um Schreibpapier, und sie schrieb bis spät in die Nacht hinein. Am nächsten Morgen bat sie Esther, den Brief aufzugeben, und wartete von da an sehnlich jeden Tag auf eine Antwort. Als diese endlich kam und die Frau sie gelesen hatte, war sie wie verwandelt. Sie sang, während sie ihr Kind badete, und noch am gleichen Abend bat sie den Juwelier, ihm und Esther ihre Geschichte erzählen zu dürfen. Ihr Schicksal war nicht so ungewöhnlich: Sie war einem gewissenlosen Liebhaber gefolgt, der sie schließlich in der Fremde mittellos im Stich gelassen hatte. Der Ring war das einzige, was er ihr gelassen hatte, ihn – und das Kind. Und ihre Eltern waren so streng, sie hatte nicht gewagt, zu ihnen nach Haus zu gehen. Nun aber hätten sie ihr doch verziehen. Sie dürfe nun nach Haus kommen!

Das erste Geschenk, das sie von Jakob Eisenstein empfing, war der Ring. Er hatte ihn von seinem fremden Schützling beim Abschied nicht annehmen wollen, es sei alles um Gottes Barmherzigkeit geschehen. Aber bald, nachdem sie sein Haus verlassen hatte, schickte sie ihm den Ring mit der Bitte, ihn nun als Geschenk und als Zeichen ihrer bleibenden Dankbarkeit anzunehmen. Ihr hätte der Ring nur Unglück gebracht bis zu dem Tage, da er sie in sein Haus geführt habe. Da sie auch jetzt noch nicht ihren Namen und Wohnort verriet, sah Jakob Eisenstein keine Möglichkeit, das Schmuckstück zurück zuweisen, hätte es wohl auch sonst nicht getan, um sie nicht zu kränken. Ihr herzlicher Dank und ihre guten Wünsche machten ihm den Ring kostbarer noch, als er war. Darum schenkte er ihn dem Mädchen, das so spät noch sein Herz gewonnen hatte. Und es schien, als sollten die Segenswünsche der vorigen Besitzerin des Ringes in Erfüllung gehen. Das Mädchen wurde Jakob eine gute und liebevolle Gefährtin. Seine Herzensgüte ließ sie bald vergessen, dass er kein äußerlich schöner Mann war, sie lebten einträchtig miteinander, und sogar mit Esther wusste sich die junge Frau gut zu stellen. Nach einem Jahr brachte sie einen hübschen, gesunden und ganz gerade gewachsenen Jungen zur Welt, und Jakob Eisenstein hätte sich nicht träumen lassen, dass ein solches Glück in seinem Hause einkehren könne.

Manchmal sprachen sie noch von der unglücklichen Fremden, die Jakob immer ein wenig als Mitbegründerin seines Glückes ansah. Aber er hörte nie wieder von ihr.

Das Eiserne Kreuz

Heiner Müller

Im April 1945 beschloss in Stargard in Mecklenburg ein Papierhändler, seine Frau, seine vierzehnjährige Tochter und sich selbst zu erschießen. Er hatte durch Kunden von Hitlers Hochzeit und Selbstmord gehört.

Im ersten Weltkrieg Reserveoffizier, besaß er noch einen Revolver, auch zehn Schuss Munition.

Als seine Frau mit dem Abendessen aus der Küche kam, stand er am Tisch und reinigte die Waffe. Er trug das Eiserne Kreuz am Rockaufschlag, wie sonst nur an Festtagen.

Der Führer habe den Freitod gewählt, erklärte er auf ihre Frage, und er halte ihm die Treue. Ob sie, seine Ehefrau, bereit sei, ihm auch hierin zu folgen. Bei der Tochter zweifle er nicht, dass sie einen ehrenvollen Tod durch die Hand ihres Vaters einem ehrlosen Leben vorziehe.

Er rief sie. Sie enttäuschte ihn nicht.

Ohne die Antwort der Frau abzuwarten, forderte er beide auf, ihre Mäntel anzuziehen, da er, um Aufsehen zu vermeiden, sie an einen geeigneten Ort außerhalb der Stadt führen werde. Sie gehorchten. Er lud dann den Revolver, ließ sich von der Tochter in den Mantel helfen, schloss die Wohnung ab und warf den Schlüssel durch die Briefkastenöffnung.

Es regnete, als sie durch die verdunkelten Straßen aus der Stadt gingen, der Mann voraus, ohne sich nach den Frauen umzusehen, die ihm mit Abstand folgten. Er hörte ihre Schritte auf dem Asphalt.

Nachdem er die Straße verlassen und den Fußweg zum Buchenwald eingeschlagen hatte, wandte er sich über die Schulter zurück und trieb zur Eile. Bei dem über der baumlosen Ebene stärker aufkommenden Nachtwind, auf dem regennassen Boden, machten ihre Schritte kein Geräusch.

 

Er schrie ihnen zu, sie sollen vorangehen. Ihnen folgend, wusste er nicht: hatte er Angst, sie könnten ihm davonlaufen, oder wünschte er, selbst davonzulaufen. Es dauerte nicht lange, und sie waren weit voraus. Als er sie nicht mehr sehen konnte, war ihm klar, dass er zu viel Angst hatte, um einfach wegzulaufen, und er wünschte sehr sie täten es. Er blieb stehen und ließ sein Wasser. Den Revolver trug er in der Hosentasche, er spürte ihn kalt durch den dünnen Stoff. Als er schneller ging, um die Frauen einzuholen, schlug die Waffe bei jedem Schritt an sein Bein. Er ging langsamer. Aber als er in die Tasche griff, um den Revolver wegzuwerfen, sah er seine Frau und die Tochter. Sie standen mitten auf dem Weg und warteten auf ihn.

Er hatte es im Wald machen wollen, aber die Gefahr, dass die Schüsse gehört wurden, war hier nicht größer.

Als er den Revolver in die Hand nahm und entsicherte, fiel die Frau ihm um den Hals, schluchzend. Sie war schwer, und er hatte Mühe, sie abzuschütteln. Er trat auf die Tochter zu, die ihn starr ansah, hielt ihr den Revolver an die Schläfe und drückte mit geschlossenen Augen ab. Er hatte gehofft, der Schuss würde nicht losgehen, aber er hörte ihn und sah, wie das Mädchen schwankte und fiel.

Die Frau zitterte und schrie. Er musste sie festhalten. Erst nach dem dritten Schuss wurde sie still.

Er war allein.

Da war niemand, der ihm befahl, die Mündung des Revolvers an die eigene Schläfe zu setzen. Die Toten sahen ihn nicht, niemand sah ihn. Das Stück war aus, der Vorhang gefallen. Er konnte gehen und sich abschminken.

Er steckte den Revolver ein und beugte sich über seine Tochter. Dann fing er an zu laufen.

Er lief den Weg zurück bis zur Straße und noch ein Stück die Straße entlang, aber nicht auf die Stadt zu, sondern westwärts. Dann ließ er sich am Straßenrand nieder, den Rücken an einen Baum gelehnt, und überdachte seine Lage, schwer atmend. Er fand, sie war nicht ohne Hoffnung.

Er musste nur weiterlaufen, immer nach Westen, und die nächsten Ortschaften meiden. Irgendwo konnte er dann untertauchen, in einer größeren Stadt am besten, unter fremdem Namen, ein unbekannter Flüchtling, durchschnittlich und arbeitsam.

Er warf den Revolver in den Straßengraben und stand auf. Im Gehen fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, das Eiserne Kreuz wegzuwerfen. Er tat es.

 

Fundevogel

Nach Gebrüdern Grimm

Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er jemanden schreien, als ob es ein kleines Kind wäre. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind gesehen& da war er hinzugeflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt.

Der Förster stieg hinauf, holte das Kind herunter und dachte: „Du willst das Kind mit nach Hause nehmen und mit deinem Lenchen zusammen aufziehen.“ Er brachte es also heim, und die zwei Kinder wuchsen miteinander auf. Das aber, das auf dem Baum gefunden worden war, und weil es ein Vogel weggetragen hatte, wurde Fundevogel genannt. Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, dass, wenn eins das andere nicht sah, wurde es traurig.

Der Förster hatte aber eine alte Köchin, die nahm eines Abends zwei Eimer und fing an Wasser zu schleppen, und ging nicht einmal, sondern vielmal hinaus an den Brunnen. Lenchen sah es und sprach: „Hör mal, alte Sanne, was trägst du denn so viel Wasser zu?“ „Wenn du es keinem Menschen wiedersagen willst, so will ich dir es wohl sagen.“ Da sagte Lenchen nein, sie wollte es keinem Menschen wiedersagen, so sprach die Köchin:“Morgen früh, wenn der Förster auf die Jagd ist, da koche ich das Wasser, werfe den Fundevogel hinein, und will ihn darin kochen.“

Am anderen Morgen stieg der Förster auf und ging auf die Jagd, und als er weg war, lagen die Kinder noch im Bett. Da sprach Lenchen zum Fundevogel: „Verlässt du mich nicht, so verlasse ich dich auch nicht“; so sprach der Fundevogel: „Nun und nimmermehr.“ Da sprach Lenchen: „Ich will es dir nur sagen, die alte Sanne schleppte gestern Abend so viel Eimer Wasser ins Haus, da fragte ich sie, warum sie das tat, so sagte sie, wenn ich es keinem Menschen sagen wollte, so wollte sie es mir auch wohl sagen. Ich versprach es gewiss, keinem Menschen zu sagen: da sagte sie, morgen früh, wenn der Vater auf die Jagd wäre, wollte sie den Kessel voll Wasser füllen, dich hineinwerfen und kochen. Wir wollen aber schnell aufstehen, uns anziehen und zusammen fortgehen.“

Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich schnell an und gingen fort. Wie nun das Wasser im Kessel kochte, ging die Köchin in die Schlafkammer, wollte den Fundevogel holen und ihn hineinwerfen. Aber als sie hineinkam und zu den Betten trat, waren die Kinder fort: da wurde ihr grausam angst, und sie sprach vor sich: „Was will ich nun sagen, wenn der Förster heim kommt und sieht, dass die Kinder weg sind? Schnell hinternach, dass wir sie wiederkriegen.“

Da schickte die Köchin drei Knechte nach, die sollten laufen und die Kinder einfangen. Die Kinder aber saßen vor dem Wald, und als sie die drei Knechte von weitem laufen sahen, sprach Lenchen zum Fundevogel: “Verlässt du mich nicht, so verlasse ich dich auch nicht.“ So sprach Fundevogel: „Nun und nimmermehr.“ Da sagte Lenchen „Du musst zum Rosenstöckchen werden, und ich zum Röschen darauf.“ Wie nun die drei Knechte vor den Wald kamen, so war nichts da als ein Rosenstrauch und ein Röschen oben drauf, die Kinder aber nirgend. Da sprachen die Knechte: „Hier ist nichts zu machen“, und gingen heim und sagten der Köchin, sie hätten nichts in der Welt gesehen als nur ein Rosenstöckchen und ein Röschen oben drauf. Da schrie die alte Köchin: „Ihr hättet das Rosenstöckchen schneiden sollen und das Röschen abbrechen und mit nach Hause bringen.“ Sie mussten also zum zweitenmal hinaus und suchen. Die Kinder sahen sie aber von weitem kommen, da sprach Lenchen: „Fundevogel, verlässt du mich nicht, so verlasse ich dich auch nicht.“ Fundevogel sagte: „Nun und nimmermehr.“ Sprach Lenchen: „So werde du eine Kirche und ich die Krone darin.“ Wie nun die drei Knechte dahinkamen, war nichts als eine Kirche und eine Krone darin. Sie sprachen also zu einander: „Was sollen wir hier machen, lasst uns nach Hause gehen.“ Wie sie nach Hause kamen, fragte die Köchin, ob sie nichts gefunden hätten: so sagten sie nein, sie hätten nichts gefunden als eine Kirche, da wäre eine Krone darin gewesen. „Ihr Narren“, schrie die Köchin, „warum habt ihr nicht die Kirche zerbrochen und die Krone mit heim gebracht?“ Nun machte sich die alte Köchin selbst auf die Beine und ging mit den drei Knechten den Kindern nach. Die Kinder sahen aber die drei Knechte von weitem kommen, und die Köchin wackelte hinten nach. Da sprach Lenchen: „Fundevogel, verlässt du mich nicht, so verlasse ich dich auch nicht.“ Da sprach der Fundevogel: „Nun und nimmermehr.“ Sprach Lenchen: „Werde du zum Teich und ich die Ente drauf.“ Die Köchin aber kam herzu, und als sie den Teich sah, legte sie sich drüberhin und wollte ihn aussaufen. Aber die Ente kam schnell geschwommen, fasste sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser hinein: da musste die alte Hexe ertrinken. Da gingen die Kinder zusammen nach Hause und waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.

 

Weisheit

Ein junger Prinz beschließt, Abenteuer zu suchen und einen Drachen zu töten. Er kauft sich ein Schwert und eine Rüstung und macht sich auf den Weg. In der Höhle des Drachen angekommen, sieht er sich gerade um, als er plötzlich etwas auf seiner Schulter spürt. Er dreht sich herum und vor ihm steht ein riesiger Drache, der einen Finger auf seine Schulter gelegt hat.

Der Drache fragt den Prinzen: "Hallo! Was machst denn du hier?"

Prinz: "Äh..., hmm..., also..."

Drache: "Immer das gleiche mit den jungen Rittern. Gib es zu, du wolltest mich töten!"

"Na ja, also... ja!"

"Hör zu, das ist nicht das erste Mal. Die dummen Jünglinge kommen an und meinen, wir Drachen wären so doof, dass man uns einfach so abmurksen könnte, und dabei haben sie noch nie einen von uns gesehen. Ich mache dir einen Vorschlag: Wenn du versprichst, Weisheit zu suchen, lasse ich dich am Leben. Du hast von jetzt an ein Jahr Zeit, mir eine Frage zu beantworten. Wenn mich die Antwort zufrieden stellt, bekommst du die Hälfte meines Drachenschatzes, ansonsten fresse ich dich auf."

"Hm, da bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig..."

"Genau. Ach ja, und komm bloß nicht auf die Idee, abzuhauen und nie wiederzukommen. Ich finde dich!"

"Na gut, und wie lautet die Frage?"

"Die Frage lautet: Was ist Frauen wirklich wichtig?"

Daheim angekommen, befragte der Prinz jede Frau im Schloss, was ihr wichtig sei, von der Königin bis zur einfachsten Magd. Er bekam viele Antworten wie "Schönheit", "Reichtum", "Macht", "Einen lieben Mann....", aber zu jeder Antwort gab es auch viele Frauen, die das für völlig falsch hielten. Er war schon am Verzweifeln, bis ihm jemand den Vorschlag machte, die alte weise Hexe im Sumpf zu befragen, die einige Tagesreisen weit weg wohnte. Als er bei der Hexe ankam, schilderte er ihr sein Problem. Diese meinte, die Antwort zu kennen, aber um den Preis, dass er sie heiraten würde. Da bekam der Prinz einen Riesenschreck, denn die Hexe war die hässlichste Frau, die er jemals gesehen hatte: ein Buckel, die Beine unterschiedlich lang, eine große Warze auf der Nase; sie roch fürchterlich, und ihre Stimme war ein ekelhaftes Gekrächze. Nach einiger Zeit beschloss er jedoch, dass dies gegenüber dem Drachen das geringere Übel sei und versprach, die Hexe zu heiraten, wenn der Drache die Antwort akzeptieren würde.

Daraufhin gab sie ihm ihre Antwort: "Was sich jede Frau wünscht ist, über die Dinge, die sie persönlich betreffen, selbst bestimmen zu können".

Der Drache akzeptierte die Antwort und überließ dem Prinzen einen Teil seines Schatzes. Fröhlich ritt der Prinz nach Hause, bis er wieder an die alte Hexe dachte. Da er jedoch ein Prinz war, bleib ihm nichts Anderes übrig, als sein Versprechen einzuhalten, und die Hochzeit wurde angesetzt. Das war ein trauriges Fest! Die Hexe sah nicht nur furchtbar aus und stank; sie hatte auch die schlechtesten Manieren, rülpste, furzte und beleidigte die Gäste. Die einen bemitleideten den Prinzen, die anderen machten sich über ihn lustig, aber jeder fand schnell eine Entschuldigung, sich verabschieden zu müssen, so dass am frühen Abend die Feier zu Ende war.

Danach verabschiedete sich die Braut ins Schlafzimmer, nicht ohne dem Prinzen mitzuteilen, dass sie sich auf das, was jetzt kommen sollte, besonders freuen würde. Der arme Prinz überlegte sehr, ob der Drache nicht doch das kleinere Übel gewesen wäre. Wie staunte er jedoch, als er das Schlafzimmer betrat und die schönste Frau im Bett lag, die er jemals gesehen hatte! Diese duftete angenehm, hatte eine schöne Stimme und erklärte ihm, dass sie sehr wohl die Hexe sei, aber als Hexe auch die Fähigkeit hätte, ihr Aussehen zu verändern, und dass sie beschlossen hätte, ihn für das gehaltene Versprechen zu belohnen. Sie wäre zukünftig am Tag die alte Hexe und in der Nacht die junge schöne Frau - oder auch genau andersherum, am Tag schön und in der Nacht die Hexe. Der Prinz könne sich heraussuchen, was ihm lieber wäre.

Der Prinz überlegte lange, was besser wäre - tagsüber eine schöne Frau, um die ihn alle beneiden würden, aber schreckliche Nächte, oder tagsüber das Gespött eines jeden zu sein und dafür die Nächte genießen zu können. Wie hat er sich wohl entschieden?

Der Prinz erinnerte sich an die Frage des Drachen und antwortete schließlich, dass sie dies selbst bestimmen solle. Daraufhin freute sich die Hexe und meinte, dass der Prinz damit erst wirklich seine Weisheit bewiesen habe und sie als Belohnung nun immer die schöne Gestalt tragen würde.

Und was ist die Moral dieser Geschichte?